Die Sonntagsfrage: Ist die Realität wichtig?

Eines der Weihnachtsgeschenke, die ich von meiner Schwester und ihrer Familie bekam, ist  dieses nette Ding:

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Es nennt  sich „Sinnfragen Kombinator„, Autorin ist Pia Frey, erschienen ist der Kombinator im November 2013 als „Tischkalender“ im Metermorphosen Verlag. Ein Kalender ist er aber nur Form nach, er hat nichts, was einen Kalender zum  Kalender macht – da sind weder Tage, noch Wochen noch  Monate drin. Statt dessen enthält er zwei  durch eine Spiralbindung verbundene Zettelblöcke. Auf dem  linken Zettel steht jeweils „Ist“ und ein Substantiv, rechts ein Wort – meist ein Adjektiv – und ein Fragezeichen, so dass durch zwei zufällig aufgedeckte Zettel eine zufällige Frage entsteht, wie etwa: „Ist Leberwurst verwerflich?“ oder „Ist Phantasie mächtig?“ oder „Ist Macht langweilig?“ Prinzip ist klar, oder?

Meine kleine Schwester kennt mich ziemlich gut – ich spiele mit dem Kombinator voll Begeisterung und habe auf die Blankoseiten am Schluss schon einige eigene Begriffe eingetragen. Auch wenn er genaugenommen nur sehr wenig echte Sinnfragen stellt, hat er mich gepackt. Und nach einer Weile  dachte ich: Das wäre  doch was für  den Blog. Und wenn es nur ist, damit mein Philosophiestudium sich mal praktisch bewährt. Ich werde also von nun an jeden Sonntag eine (zufällig gewählte) „Sonntagsfrage“ aus dem Kombinator stellen und – selbstverständlich – beantworten. 😉 Und die erste Frage lautet:

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Ist die Realität wichtig?

Eine schöne Frage, denn sie ist nach all meinem einleitenden Geschwätz vergleichsweise einfach zu beantworten.

Stellt sich natürlich zunächst die Frage: Was ist Realität? Spontan würde man wohl antworten „die Wirklichkeit“, aber das würde nur bedeuten, dass ich ein unerklärtes Substantiv durch ein anderes ersetze. Ein Blick in den Duden hilft hier ein wenig weiter. Meine Ausgabe des Dudens (2009) definiert „Realität“ zwar auch als „Wirklichkeit“ bietet als zweite Definition aber „Gegebenheit“. Das ist hilfreicher, denn diese Definition macht klar, dass die „Realität“ der sie erfahrenden Person gegeben ist, sie kommt also nicht aus ihrer eigenen Vorstellung. Ich weiß, es gibt ganze philosphische Seminare (Pro- wie Haupt-) die sich mit der Frage, „Was ist Realität?“ beschäftigen, von klugen schriftlichen Werken durch alle Epochen ganz abgesehen, ich muss also hier verkürzen. Aber ich denke, für die Zwecke dieses Blogs ist es angemessen, wenn ich „Realität“ als den Teil der Wirklichkeit definiere, der unabhängig von jeder menschlichen Vorstellung existiert, sie aber mittels der menschlichen Wahrnehmung beeinflussen kann. Oder,  um es verständlich zu machen: Bäume waren schon real, bevor es Menschen gab. Sie wurden aber Teil der menschlichen Vorstellung, sobald Menschen sie sahen, fühlten und dagegen liefen.

Ergibt sich die Frage: Stimmt das? Waren Bäume real, bevor Menschen sie wahrnahmen? Natürlich wissen wir von Baumfossilien, aber die nehmen wir auch wahr, wenn auch nur vermittelt. Ähnliches gilt für ferne Galaxien, die wir nur durch Bilder des Hubble-Teleskopes kennen. Sind also Galaxien real, die das Hubble Teleskop nicht wahrnimmt, waren Bäume real, die vor 30 Millionen Jahren wuchsen, aber nie zu Fossilien wurden? Ist  etwas real, das wir nicht wahrnehmen können?

Die Antwort ist:  Wir können es nicht wissen. Wir können über eine Realität außerhalb unserer Wahrnehmung nur Vermutungen anstellen (oder feiner: Theorien bilden).

Was aber ist mit der Realität, die wir wahrnehmen, vermittels unserer Sinne und unseres Verstandes? Können wir sicher sein, dass ein Ding, welches wir wahrnehmen, uns zuerst einmal von sich aus anspricht, und wir es erst dann mit Hilfe unseres Verstandes analysieren (indem wir es zum Beispiel „Baum“ nennen). Die ernüchternde Antwort ist: Nein. Spätestens Immanuel Kant hat endgültig nachgewiesen, dass es Kategorien unseres Verstandes gibt, die nicht aus der Wahrnehmung der uns umgebenden Wirklichkeit kommen, sondern nur aus unserem Verstand.  Das einfachste Beispiel ist immer die „Ursache“. Wir sehen, dass eine Tasse vom Tisch fällt. Die Tasse zerschellt auf dem Boden. Ergebnis: eine zerbrochene Tasse. Das Zerschellen ist die Ursache des Bruchs, der Sturz die Ursache des Zerschellens (Physiker  können das viel komplizierter erklären, aber es läuft  auf das selbe hinaus). Nur: Mittels unserer Sinne haben wir nur wahrgenommen: Tasse auf Tisch, Tasse stürzt, Tasse zerschellt, Tasse kaputt. Die URSACHE legen wir selbst hinein. Und – das ist das Tückische – wir können nicht anders. Wir können uns vielleicht theoretisch eine Welt ohne einzelne Kategorien  oder Ordnungsfunktionen wie Ursache, Zeit oder einige andere ausmalen – aber niemals ohne alle. Und es gibt Kategorien/Ordnungsfunktionen, die unmöglich wegzudenken sind, wie etwa Raum oder Einheit/Vielheit/Allheit. Etwas ist entweder Eins oder Vieles oder Alles, anders können wir nicht wahrnehmen.

Da aber nun diese Kategorien und Ordnungsfunktionen aus uns selbst herauskommen und wir nicht überprüfen können, ob sie eine Entsprechung in der Realität haben (Kant spricht von „rein a priorischer Erkenntnis“) ergibt sich, dass wir auch nichts Gültiges über die von uns unabhängige Realität sagen können. Die „Dinge an sich“ entziehen sich unserer Wahrnehmung. Damit ergibt sich, dass ich höchstens etwas über meine persönliche „Realität“ sagen kann, schon nichts mehr über die „Realität“ meines Nachbarn, schon gar nichts über die „Realität an sich“. Die aber ist, laut Definition oben, gemeint.

Ich könnte jetzt noch versuchen, „wichtig“ zu definieren, aber das brauche ich gar nicht. Wenn ich über die Realität an sich nichts Gültiges sagen kann, kann ich auch nicht sagen, ob sie wichtig ist, unwichtig oder vielleicht doch ein Pinguin. Die Antwort auf die Frage lautet also:

Ob Realität wichtig oder unwichtig ist, ist mir gleichgültig. Ich kann es nicht beurteilen.

Bliebe noch zu klären, ob das, was ich persönlich als Realität wahrnehme, wichtig ist. Ich würde sagen: ja. Wer zweifelt kann ja mal anhand eines naturwissenschaftlichen Experiments die  Realität eines Hammers und des eigenen kleinen Fingers überprüfen. Ich empfehle es ausdrücklich NICHT!!! Die  subjektive Realitätserfahrung ist sehr unmittelbar und drastisch.

Verwendete Literatur:

Frey, Pia: „Sinnfragen Kombinator„, Frankfurt 2013

Kant, Immanuel: „Kritik der reinen Vernunft – nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe herausgegeben von Raymund Schmidt“, Hamburg (3) 1990

Wermke, Dr. Matthias u.A. (Herausgeber): „Duden – Die deutsche Rechtschreibung“, Mannheim, Wien, Zürich (25) 2009

Über Mountfright

Autor und Öffentlichkeitsarbeiter, Mann und Vater, Leser und Filmfreak. Kindheit in den 1970ern, weswegen mich bis heute seltsame Musik mit Ohrwürmern plagt. Aufgewachsen in den 80er Jahren, einem Jahrzehnt, das nicht halb so grau war, wie die anderen glauben. Erste Kurzgeschichte mit 13, erster echter Romanversuch (nach pubertären Ausfällen) mit 17, die nachfolgende Schreibblockade habe ich mir mit Songtexten für die Kölner Psychobillyband "Boozehounds" vertrieben. Danach ging es wieder: Erster lesenswerter Roman mit 26, seither nicht mehr aufgehört.
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21 Antworten zu Die Sonntagsfrage: Ist die Realität wichtig?

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  2. misaoi schreibt:

    Kommt nächstens eine Frage zu Leberwurst ? 😀

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