schreckenbergschreibt: Die Leere

Nomaden

Gestern, etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht, habe ich den letzten Satz meines neuen Romans getippt. Die Nomaden enden mit den Worten:

„Und ich werde niemals zurückkommen.“

Das war’s. Es ist vorbei, die Geschichte ist geschrieben. Ich schreibe niemals „Ende“ unter meine Geschichten, erstens, weil sie für meine Figuren ja weiter gehen und zweitens, weil ich davon ausgehe, dass die Leserinnen und Leser selbst merken, das nun Schluss ist.

Seither fühle ich mich verlassen. Ich habe geahnt, dass es so kommen würde, ich habe in den letzten Monaten so intensiv in dieser Geschichte gelebt wie schon lange nicht mehr. Das mag daher kommen, dass die Nomaden (eine Endzeitgeschichte) die erste Phantastische Geschichte seit langem sind, deren erste Fassung ich beendet habe. Die erste Fassung des Finders habe ich 1998 fertig geschrieben, 12 Jahre vor der Veröffentlichung. Die erste Fassung von Sergej war im Jahr 2000 fertig, Der Ruf 2001. Andere Geschichten habe ich angefangen, aber noch nicht beendet. In die fertigen Romane bin ich immer wieder zurückgekehrt, habe umgeschrieben, ergänzt, modernisiert und verbessert. Der Finder wurde im Lektoratsprozess um ein Drittel länger als er ursprünglich war, ich habe das ja schon öfter erzählt. Und die Träumer, die 2011 entstanden, sind eben ein Krimi – was für mich etwas völlig anderes ist. Denn einen Krimi plane ich, und schreibe ihn dann gemäß meinem Plan. Das bedeutet nicht, dass ich mit den Figuren in meinen Kriminalgeschichten weniger lebe und leide, als mit denen in meinen Phantastischen Geschichten. Aber wir leben auf eine andere Art zusammen.

Denn wenn ich Phantastik schreibe, dann bin ich das, was man einen „Discovering Writer“ nennt. Ich weiß, wo meine Geschichte beginnt, ich kenne ein paar wichtige Wegmarken, die ich auf der Reise erreichen möchte, ich habe meist zumindest eine Ahnung davon, wie sie enden wird. Aber mehr weiß ich nicht. Ich begebe mich mit meinen Figuren auf diese Reise, wir erleben gemeinsam schöne und schreckliche Dinge, treffen Menschen, die wir vorher nicht kannten (ein besonders krasser Fall in den „Nomaden“ ist Annabell, über die und ihr plötzliches Auftauchen in meinem Leben und meiner Geschichte werde ich demnächst hier schreiben) und am Ende erreichen wir ein Ziel, das auch ich so nicht  vorausgesehen habe. Denn wenn die Reise zu Ende ist, dann bin ich auch stets erstaunt, was aus meiner Ahnung von dem Schluss geworden ist.

Ich meine das nicht metaphorisch, generell nicht und hier, bei den „Nomaden“, schon gar nicht. Denn dies ist eine Reisegeschichte und ich habe mit Jo und Sonja, Annabell, Bram und Anouk, Doris und Fynn und Lilli und all den anderen gelebt und gelitten. Das ist etwas, das viele nicht-Autoren nicht verstehen, viele Autoren aber völlig selbstverständlich finden werden: Ich denke mir das nicht aus! Ich (er)lebe das. Das ist der Grund, aus dem ich so seltsam bin, wenn ich aus meinem Zimmer herauskomme, das bedeutet es, in der „Zone“ zu sein.

Und nun ist die Reise zu Ende. Für mich. Meine Figuren, die, die all den Schrecken überlebt haben, reisen weiter. Sie lassen mich zurück, und ich fühle mich leer und verlassen. Eben noch habe ich um eine meiner Lieblingsfiguren getrauert, habe meinen Protagonisten auf einem schweren, einsamen Weg begleitet – und jetzt bin ich raus, ich gehöre nicht mehr dazu. Ich bin kein Nomade mehr. Das ist schrecklich.

Unfair ist es das nicht – es ist der Preis, den ich dafür zahle, dass ich nun, nach einer Trauerphase, in eine neue Welt eintauchen werde können, was meinen Figuren verwehrt bleibt. Von daher darf ich trauern, aber nicht jammern, auch wenn es erstmal weh tut.

Natürlich geht die Arbeit jetzt erst richtig los. Ich werde die Korrekturen und Anmerkungen meiner Erstleser einarbeiten, noch fehlende Musikzitate aussuchen, ich werde mit meinem Lektor fechten, ich werde Darlings killen und diesmal auch ein Personenverzeichnis schreiben, es ist nötig, glaube ich. Aber das ist alles schal. Ich redigiere an meinem Reisebericht, die Reise ist zu Ende, die Nomaden sind hinter dem Horizont verschwunden.

Ich vermisse Euch, meine Freunde. Ich vermisse Euch so sehr.

Über Mountfright

Autor und Öffentlichkeitsarbeiter, Mann und Vater, Leser und Filmfreak. Kindheit in den 1970ern, weswegen mich bis heute seltsame Musik mit Ohrwürmern plagt. Aufgewachsen in den 80er Jahren, einem Jahrzehnt, das nicht halb so grau war, wie die anderen glauben. Erste Kurzgeschichte mit 13, erster echter Romanversuch (nach pubertären Ausfällen) mit 17, die nachfolgende Schreibblockade habe ich mir mit Songtexten für die Kölner Psychobillyband "Boozehounds" vertrieben. Danach ging es wieder: Erster lesenswerter Roman mit 26, seither nicht mehr aufgehört.
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6 Antworten zu schreckenbergschreibt: Die Leere

  1. rocknroulette schreibt:

    „Das ist etwas, das viele nicht-Autoren nicht verstehen, viele Autoren aber völlig selbstverständlich finden werden: Ich denke mir das nicht aus! Ich (er)lebe das. Das ist der Grund, aus dem ich so seltsam bin, wenn ich aus meinem Zimmer herauskomme, das bedeutet es, in der “Zone” zu sein.“
    ganz genau. das ist es. exakt genau das. man ist nicht da, man ist woanders.

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    • Mountfright schreibt:

      Ja. Woanders und mit anderen Leuten. Muss für Außenstehende manchmal sehr verwirrend sein.

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      • rocknroulette schreibt:

        oh ja, das ist es.
        hab meinem män neulich mal eine kleine erklärung dafür gegeben, wieso ich beim sushibestellen im take-away plötzlich geistig komplett weggetreten war: die hatten da ein riesiges asien-bild hängen und obendrüber, mitten im bild, hing ein fernseher… sofort erfand ich für eine figur einen lieblingsimbiss mit einem derartig achtlos aufgehängten TV… denn die figur mag exotisches essen… natürlich! die mag exotisches essen, denn als gegenpol zu einer anderen figur, die nur gutbürgerlich kochen kann, macht das sinn… kocht die exotik-figur dann auch? hm… wie sieht es eigentlich in seiner küche aus… ich muss mir die ganze wohnung noch überlegen… und DANN wurde ich unsanft geschüttelt und gefragt, ob ich california rolls will! also bitte! 😀

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  2. Mountfright schreibt:

    Das ist eine direkte Antwort auf rocknroulette, aber hier kann man ja nicht mehr als zweimal antworten:

    Ja, oder? Ich warne meine Frau inzwischen mit „bin noch in der Geschichte“, worauf sie meist so etwas wie „ach so, okay“ antwortet. 😀 Sie hat sich sogar daran gewöhnt, dass ich temporär in einzelne Figuren verliebt bin, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin sehr glücklich und dankbar, dass ich mit einer Nicht-Schriftstellerin zusammen bin, die mich trotzdem versteht und meine Ausfälle toleriert. Ich war noch nie mit einer Autorin zusammen, aber ich fürchte, das würde auch maximal mittelfristig funktioneren. Zwei Leute, die ständig andere Welten bewohnen, aber dann zusammen in der Realität existieren sollen? Stelle ich mir schwierig vor.

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    • rocknroulette schreibt:

      schwierig… aber auch interessant! ich weiß es nicht.
      im druckstaueffekt trifft meine protagonistin einen, der sich immer wieder verliert, der nur für das schreiben lebt. und so sehr ich in den vincent „verliebt“ bin (du kennst das ja auch), genauso sehr muss ich zugeben, dass der als sozialwesen ungeeignet ist.
      dir zu ehren habe ich heute übrigens diesen kleinen text in meinen text-adventskalender gepackt: http://sabinewirsching.com/2013/09/21/junkies-auf-der-rolltreppe-oder-vom-schreiben/
      das ein oder andere wird dir sicher auch bekannt vorkommen (und das warmen gewöhne ich mir mittlerweile auch an… „achtung, ich hab noch liebeskummer!“)

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  3. Pingback: schreckenbergschreibt: Quarantänegeschichte Nr. 38 – Der Ruf, Teil 13 | schreckenbergschreibt

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