Die Sonntagsfrage: Ist Sozialneid total peinlich?

Fast zwei Monate war mein Sinnfragenkombinator verschwunden. Am Donnerstag (just an meinem Geburtstag) habe ich ihn endlich wiedergefunden. Im… ähm… Küchenregal. Ja. Wo auch sonst? Zwischen Kochbüchern, CDs (kein Spülen ohne Musik oder Hörbuch) und Obst. Hätte ich ja auch mal früher drauf kommen können, ich kleiner Dussel, ich. Und da ich ihn nun wieder habe, mache ich natürlich mit den Sonntagsfragen weiter. Heute möchte der Kombinator wissen:

Sinnfragenkombinator 140511Ist Sozialneid total peinlich?

Mein Duden ist von 2009, er kennt das Wort Sozialneid, definiert es aber nicht (sagt aber immerhin, wie man es trennt). Das ist interessant. Ich muss mich also selbst an eine Definition geben. Übrigens ist das Wort, wenn ich mich nicht irre, relativ neu. Ich wurde Anfang der 1970er geboren, mein politisches Interesse (und mein recht eigentümlicher Weg durch die politischen Überzeugungen) begann also Mitte der 1980er. In den 1990ern habe ich Politikwissenschaften im Nebenfach studiert, ich glaube also, mit Begriffen aus der politischen Berichterstattung und Analyse halbwegs vertraut zu sein. Vor 1990 ist mir der Begriff nie begegnet, seinen wirklichen Aufschwung erlebte er, so zumindest glaube ich mich zu erinnern, erst ab Mitte der 90er. Zunächst die Definition – oder die Definitionen.

„Neid“ ist ein spezifisches Gefühl der Missgunst, der Neider missgönnt dem Beneideten ein Objekt, das dieser besitzt, der Neidende aber nicht. Dabei ist es nicht zwingend notwendig, dass der Neider das Objekt selbst besitzen will.

„Sozialneid“ ist eine Form des Neides, bei dem der Neider dem Beneideten seinen (wirklichen oder angenommenen) sozialen Status neidet. Gebräuchlich ist der Begriff allerdings nur in einer Richtung, nämlich so, dass ein (wirklich oder in der eigenen Wahrnehmung) sozial niedrig gestellter Neider einem (wirklich oder in des Neiders Wahrnehmung) höher stehenden Beneideten dessen Status neidet. Im alltäglichen Gebrauch des Begriffs wird in aller Regel der materielle Besitz des Beneideten – Synonym oder/und pars pro toto – für den sozialen Status genannt.

Nach dieser Definition kenne ich vor allem zwei Zusammenhänge, in denen das Wort „Sozialneid“ gebraucht wird. Im Ersten finde ich den Sozialneid peinlich, im Zweiten allerdings den Gebrauch des Begriffs.

Peinlich finde ich Sozialneid dort, wo er per se unterstellt, der Beneidete verdiene seinen sozialen Status und die damit verbundenen Annehmlichkeiten nicht, stattdessen stünden sie gerechterweise dem Neider zu, der sie aber wegen der Ungerechtigkeit der Welt, Schlechtigkeit (oder auch Dummheit) der Menschen, Grausamkeit des Schicksals etc., etc., etc…. nicht bekommt. Unter Künstlern – gerade Schriftstellern – ist diese Form des Sozialneids durchaus verbreitet, und ich bin froh, dass ich hier dagegen reden kann, so lange ich (noch?  😉  ) nicht zu den Bestsellerautoren gehöre, und damit unverdächtig bin, mich gegen Neider wehren zu müssen. Ein typischer Vertreter dieser Sorte von schriftstellerischem Sozialneid verkauft selbst weniger Bücher, als er gerne verkaufen würde. Er hinterfragt aber nicht, warum das so ist – ob es vielleicht an ihm selbst, seinen Geschichten, seinem Genre, seinem Verlag, Agenten, usw., usw., oder auch nur an seinem unverdienten Pech liegt, er unterstellt, das Publikum sei eben dumm und wisse wahre Kunst nicht zu schätzen und kaufe deshalb nicht sein eigenes brillantes Werk, sondern das viel schlechtere des/der Bestsellerautor(in)s XYZ. Solche Leute führen gern das blöde Wort von dem Mist und den Tausenden von Fliegen im Mund – und degradieren damit mal eben alle potentiellen Leser(innen) zu Kerbtieren.

Klar – es gibt Kolleginnen und Kollegen, die schreiben, in meiner höchst subjektiven Wahrnehmung, schlechter als ich und haben mehr Erfolg. Aber es gibt sehr viele Erklärungen dafür, für die ich weder die versammelte Leserschaft, noch besagte Kollegen und Kolleginnen beleidigen muss. Vielleicht sind sie bekannter als ich, dann ist es an mir und meinen Verlagen, das zu ändern. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass mein ganz persönlicher Geschmack vom Geschmack vieler Leserinnen und Leser abweicht. Mir das einfach damit zu erklären, dass ich halte den „besseren“ Geschmack hätte, erfordert schon eine Menge Chuzpe. Kurz – ich finde die Form des Sozialneids, die dem Beneideten seinen sozialen Status missgönnt, weil man glaubt, man selbst habe ihn viel eher verdient, peinlich. Ich leugne übrigens gar nicht, dass er mich manchmal (selten, ehrlich) auch überkommt. Aber wenn ich dann darüber nachdenke, finde ich mich selbst peinlich. 😀

Dann aber gibt es Menschen – gerne Politiker und Publizisten – die sprechen von „Sozialneid“, wenn jemand seinen eigenen sozialen Status, die Güterverteilung in unserer Gesellschaft/auf der Welt und die Gerechtigkeit dieser Verteilung hinterfragt und womöglich gar verändern will. Wenn es dabei um die Gesellschaften und Systeme in Deutschland und Europa geht, finde ich den Gebrauch des Wortes „Sozialneid“ (gerne in Zusammenhang mit dem Wort „Neiddebatte“) peinlich. Denn wir leben in einer Gesellschaft, in der Güter und Einfluss ungerecht verteilt sind, und wer diese Verteilung gerechter machen will verdient nicht, beschimpft zu werden. „Sozialneid“ wird hier als Kampfbegriff gebraucht.

Wenn es aber darum geht, Menschen anderer Weltgegenden „Sozialneid“ zu unterstellen, dann ist der Begriff nicht peinlich, sondern zynisch. Denn wir können unseren Lebensstandard ja nur auf Kosten eines großen Teiles der Weltbevölkerung halten, wir sind die Privilegierten der derzeitigen, höchst ungerechten Weltordnung. Ich werte das nicht, ich wäre ein Heuchler, würde ich es tun, ich stelle nur fest. Aber wer hier lebt und zum Beispiel Flüchtlingen, die versuchen, an unserem Wohlstand Teil zu haben, „Sozialneid“ unterstellt – der hätte wohl auch vor 230 +/- Jahren, als französischer Adliger, den Angehörigen anderer Stände empfohlen, Kuchen zu essen wenn sie kein Brot haben.

Verwendete Literatur:

Frey, Pia: “Sinnfragen Kombinator“, Frankfurt 2013

Wermke, Dr. Matthias u.A. (Herausgeber): “Duden – Die deutsche Rechtschreibung”, Mannheim, Wien, Zürich (25) 2009

Über Mountfright

Autor und Öffentlichkeitsarbeiter, Mann und Vater, Leser und Filmfreak. Kindheit in den 1970ern, weswegen mich bis heute seltsame Musik mit Ohrwürmern plagt. Aufgewachsen in den 80er Jahren, einem Jahrzehnt, das nicht halb so grau war, wie die anderen glauben. Erste Kurzgeschichte mit 13, erster echter Romanversuch (nach pubertären Ausfällen) mit 17, die nachfolgende Schreibblockade habe ich mir mit Songtexten für die Kölner Psychobillyband "Boozehounds" vertrieben. Danach ging es wieder: Erster lesenswerter Roman mit 26, seither nicht mehr aufgehört.
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