schreckenbergschreibt: Ein Besuch im Österreichischen Staatsarchiv – Literatur als Zeitzeugnis

Ich bin wieder einmal in Wien (und Aschach), Recherche und Plotten mit Sarah. Heute führte uns unsere Recherche ins Österreichische Staatsarchiv. Dabei ging es uns nicht um irgendwelche Akten, die wir zu lesen hätten, sondern um Sinn, Aufgabe und Funktionsweise des Archives an sich. Um uns all dies näher zu bringen, erhielten wir (gemeinsam mit einem von Sarahs Brüdern) eine zweistündige Führung von einem sehr freundlichen und kundigen Archivar. Ich würde ja jetzt sagen, dass ich diese Führung jedem nur dringend empfehlen kann, aber mir ist bewusst, dass nicht alle Menschen die selbe Vorliebe für Historie und deren Systematisierung haben wie ich, also sage ich mal vorsichtiger: Allen, die sich gerne mit Geschichte und den Umgang mit historischen Quellen befassen, kann ich eine solche Führung wirklich ans Herz legen. Das waren zwei hochspannende Stunden. Ich jedenfalls habe beschlossen, dass ich jetzt ein neues Hobby habe: Auf Basis meiner bisherigen Ahnengforschung werde ich im Laufe der Zeit versuchen, ein Familienarchiv aufzubauen. Nein, das ist kein Witz.

Aber es ist auch nicht der Grund, warum ich über den Besuch im Staatsarchiv blogge. Der Grund dafür ist eine kleine Anekdote, die uns der Archivar erzählte: An seinem ersten Tag im Archiv beauftragte ihn sein Vorgesetzter, Material zum Thema „Kino“ aus den 1920er und 30er Jahren zusammen zu tragen. Der junge Archivar in spe machte sich also eifrig auf die Suche und fand… Nichts. Als er seinen Vorgesetzten mit diesem Ergebnis konfrontierte und sagte, unter „K“ wie „Kino“ sei nichts zu finden, lächelte dieser – und zeigte ihm die Kartei zu „L“ wie „Lichtspielhäuser“. Und siehe, da fand sich vieles. Moral von der Geschicht: Sprache und ihr Gebrauch verändern sich, und wer historisch forscht muss auch diese Veränderung miterforschen, sonst kommt er nicht weit.

Mir fiel sofort „Im Westen nichts Neues“ ein, worin Remarque das, was wir heute als „Panzer“ bezeichnen, durchgehend bei dem englischen Begriff „Tank“ nannte. Ich vermute also, wenn man in entsprechend alten Archiven über die Panzerwaffe forscht, wird man wenig unter „Panzer“ und viel unter „Tank“ finden. Das gab mir zu denken. Denn neben allem anderen ist Literatur immer auch ein Sprachzeugnis der Zeit, zu der sie entstanden ist.

Nun gibt es aber immer wieder den Versuch, alte Geschichten zu modernisieren, aus den unterschiedlichsten Gründen. Mal, weil man modernen Lesern nicht mehr zutraut, die alte „umständliche“ Sprache zu verstehen, mal, weil sich darin Begriffe finden, die heute bestenfalls missverständlich (When I was your age, Dick actually was a name.), schlimmstenfalls beleidigend, verletzend, diskriminierend oder rassistisch (der Negerkönig von XYZ) sind. Ich halte das, je mehr ich darüber nachdenke, in jedem Fall für problematisch, vorsichtig gesagt. Diese Editionen nehmen Leserinnen und Lesern, auch und gerade Kindern, das Gefühl dafür, dass Sprache sich verändert. Dass nicht immer alles so war, wie es heute ist, dass Dinge früher anders hießen, dass derselbe Begriff unterschiedliche Dinge bezeichnen kann, dass unser „Heute“, mit allem was wir damit verbinden, eben nicht die Norm ist, sondern nur ein vergänglicher Punkt in einem sich immer wieder verändernden Strom der Geschichte – weiß Gott nicht nur sprachlich. Wer sich darauf nicht einlassen will, weil es ihm zu umständlich und zu schwierig ist, der nimmt sich eine sehr interessante und wichtige Erfahrung. Natürlich soll man auch den Leuten Bücher anbieten, die auf diese Erfahrung verzichten möchten, aber man könnte sie als Übersetzungen bezeichnen. „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, in einfache, moderne Sprache übersetzt von Kuno Künstler. Oder so ähnlich.

Was aber ist mit den diskriminierenden, verletztenden Begriffen? Ich glaube, hier liegt die Lösung nicht in einer Bereinigung des Textes – damit leugnet man, dass es diese Begriffe gab, dass man sie einmal anders (selbstverständlicher, gedankenloser, wie auch immer) benutzte und dass sich seither etwas verändert hat. Sarah hatte den Vorschlag, hier könnte man mit Vorworten arbeiten, ich würde ergänzen: Und mit Fußnoten*. Das ist, denke ich, ein ehrlicherer Mittelweg zwischen Leugnen der Entwicklung, indem man alles so läßt wie es war und Leugnen der Entwicklung, indem man kommentarlos ändert.

 

 

 

*“Aber soll ich meinem Kind jetzt Vorworte und Fußnoten vorlesen, oder was?“ Nein, sollst Du nicht. Du sollst sie selber lesen, und mit Deinem Kind über die Probleme reden. Erziehung ist ein Recht Deines Kindes, und Deine Pflicht. 😉

Über Mountfright

Autor und Öffentlichkeitsarbeiter, Mann und Vater, Leser und Filmfreak. Kindheit in den 1970ern, weswegen mich bis heute seltsame Musik mit Ohrwürmern plagt. Aufgewachsen in den 80er Jahren, einem Jahrzehnt, das nicht halb so grau war, wie die anderen glauben. Erste Kurzgeschichte mit 13, erster echter Romanversuch (nach pubertären Ausfällen) mit 17, die nachfolgende Schreibblockade habe ich mir mit Songtexten für die Kölner Psychobillyband "Boozehounds" vertrieben. Danach ging es wieder: Erster lesenswerter Roman mit 26, seither nicht mehr aufgehört.
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