schreckenbergschaut: Fantasy Filmfest 2016 – 2 Pure Schönheit

Das Zombiegenre ist ausgereizt, oder? Ich weiß nicht, seit wievielen Jahren jetzt die lebenden Toten die Leinwände und Bildschirme beherrschen und in immer denselben Bildern, mal schnell, mal langsam, nach dem Fleisch und/oder Hirn der lebenden Lebenden gieren. Es ist inzwischen soweit, dass ich, wenn mich jemand nach dem Genre von „Der Finder“ und „Nomaden“ fragt sage: „Endzeit. OHNE Zombies.“ Mein Lieblingszombiefilm ist „Shaun of the Dead„, eine Genreparodie von 2004 (!).

Oder… er war es. Denn gestern hatte ich eines dieser unerwarteten Erlebnisse, für die ich das Fantasy Filmfest so liebe. Gestern sah ich:

The Girl with all the Gifts (GB 2016)
Drehbuch: Mike Carey
Regie: Colm McCarthy

Und bevor ich meiner Begeisterung Ausdruck gebe, hier eine:

+++ SPOILERWARNUNG +++ SPOILERWARNUNG +++ SPOILERWARNUNG +++

 

 

 

 

 

 

 

 

Was tut man mit einem Apokalypsesetting, das so ausgelutscht ist, dass inzwischen selbst ernst gemeinte Filme nur noch als Parodie rüber kommen, weil die Geschichte schon so oft erzählt ist, dass ich voller Angst auf den ersten Krimi mit einem Zombie als Ermittler warte (oder gibt es den gar schon?)? Man bürstet das Genre voller Anmut gegen den Strich, in dem man einen ernst gemeinten Apokalypsefilm (MIT Zombies bzw. „Hungries“) voller Hoffnung und Schönheit macht. Vor Beginn der Vorführung kündigte ein Festivalverantwortlicher einen „harten“ Film an, der alles andere als „mindlifting“ sei. Das war ein sehr seltsames Statement, er hätte genausogut „Der weiße Hai“ als dem Tierschutz verschriebene RomCom bezeichnen können. Aber zum Inhalt:

Einmal mehr hat sich der Großteil der Menschheit in eine geistlose Masse verwandelt, die permanent nach frischem Fleisch giert. In diesem Falle ist die Ursache – und da geht es schon los – mal nicht wild herfabuliert, sondern wirklich recherchiert. Das Hirn der „Hungries“ ist von einem Pilz befallen, der die Weiterentwicklung eines real existierenden Pilzes ist. In der ersten Generation hat er eben die Mehrheit der Menschen in reine Instinktwesen verwandelt, die vor allem einem dienen – der Weiterverbreitung des Pilzes selbst. Die zweite Generation jedoch ist anders: Die Kinder infizierter Mütter sind zwar befallen, verlieren jedoch ihre Intelligenz und Persönlichkeit nicht und geraten nur in einen Fressrausch, wenn sie hunrig sind und Nahrung riechen. Ist das nicht so, sind sie ganz normale Kinder.

Oder doch nicht? Das ist die Frage – sind die Kinder wirklich zumindest teilweise Menschen, die in Symbiose mit den Pilzen leben, oder sind es menschliche Hüllen, mit deren Hilfe der Pilz menschliches Verhalten imitiert, um echte Menschen zu täuschen?

Um dies herauszufinden – und um ein Heilmittel gegen die Infektion zu finden – werden, etwa 20 Jahre nach dem Untergang, in schwer bewachten, abgelegenen Militärbasen Kinder der zweiten Generation gefangen gehalten. Sie gelten als nichtmenschlich und gefährlich, werden zwar unterrichtet, gefüttert und gepflegt, aber nur, um sie zu erforschen. Eines dieser Kinder ist Melanie (meisterhaft gespielt von der erst 16jährigen Sennia Nanua). Ihre Lehrerin, Helen Justineau (Gemma Arterton) hält sie für einen Menschen, die leitende Wissenschaftlerin (Glenn Close) für einen bösartigen, mimikrybegabten Pilz in Menschengestalt. Der Kampf der beiden um Melanie wird fürs Erste untebrochen, als die Hungries die Basis überrennen und die beiden Frauen, gemeinsam mit Melanie und einer Handvoll Soldaten, als einzige entkommen können. Sie finden schließlich ein verlassenes, mobiles Labor, in dem sich nicht nur Melanies Schicksal, sondern auch das all ihrer Begleiter und der gesamten Menschheit entscheidet.

Ich kann diesen Film nicht genug loben. Hier stimmt ALLES:

Das Motiv der Pandora (The Girl with all the Gifts), dass sich durch den ganzen Film zieht und Melanie schließlich zu der macht, die das Schicksal der Menschheit besiegelt – und ihr gleichzeitig Hoffnung gibt.

Die wunderbar gezeichneten Figuren – von Melanie selbst und Miss Justineau, die eben keine klischeehaft gütige Lehrerin ist, sondern vor allem auch eine fähige Soldatin, die es, wie sie selbst besoffen zugibt, unabsichtlich zugelassen hat, dass sie Melanie gern hat. Über die Soldaten, insbesondere Sergeant Parks (Paddie Considine), die zuerst auch wie Abziehbilder erscheinen und dann zu vielschichtigen Personen weren, bis hin zu Glen Closes Dr. Caldwell, die wirklich das Beste will – aber eben mit der zunehmend sinnloren Logik einer Wissenschaftlerin, die um jeden Preis ein Heilmittel finden will, das niemanden mehr heilen könnte, selbst wenn sie es fände.

Die langen Erzählbögen, die sich durch die ganze Geschichte ziehen, und alles stimmig abgeschlossen werden. Der wichtigste davon ist natürlich der von Melanies Selbstfindung. Er beginnt damit, dass sie Dr. Caldwell fragt, wer sie (Melanie) sei – und er endet mit der selben Frage, nachdem sie Caldwell mit deren eigenen logischen Mitteln, in die Falle gelockt und ausgekontert hat. Das ist alles so richtig, so stimmig, so wunderschön. Dr. Caldwell unterschätzt das Mädchen – und ich habe mich dabei erwischt, dass ich es auch getan habe, obwohl ich es eigentlich, nach alles was ich gesehen habe, besser hätte wissen müssen.

Und dann diese Bilder, diese ebenso traumhaften wie realistischen Bilder einer untergegangenen Zivilisation und ihrer ehemaligen Bewohner, die (die meiste Zeit) so still und pflanzenhaft darin stehen, wie gewachsen, stimmig, richtig, gut. Niemals habe ich Menschen in den verschiedensten Stadien der Entstellung und Entmenschlichung so wunderschön gesehen.

Der Film ist hart? Nicht härter und blutiger als jeder andere Zombiefilm, in der zweiten Hälfte sogar eher schonend. Ja, klar, es gibt ein paar Schockerbilder, aber da hat selbst „Shaun of the Dead“ Härteres zu bieten, von „The walking Dead“ gar nicht zu reden. Es gibt genau EINE Szene, bei der ich den Drang hatte, kurz die Augen zu schließen. Ich habe es nicht getan, und siehe da – sie war viel weniger schlimm als ich erwartete (es sei denn, man hat eine Rattenphobie).

Nicht mindliftig??????? Ja, gut, wenn man darauf hofft, dass die Menschheit gerettet wird und alles so weiter geht wie vorher, dann geht man depremiert aus dem Kino, stimmt. Wenn man aber in der Lage ist, sich eine neue Welt vorzustellen, eine andere, in der der Mensch seinen Platz hat, aber eben nicht mehr den selben wie zuvor – dann bringt Melanie, die neue Pandora, auch Hoffnung und entlässt den Zuschauer mit einem guten, warmen Gefühl aus dem Kino. So wie mich.

„The Girl with all the Gifts“ kommt voraussichtlich nächstes Jahr in unsere Kinos. Schaut ihn Euch an, wenn ihr einen Sinn für Filme habt, die mit Schönheit und Hintergründigkeit überraschen.

Über Mountfright

Autor und Öffentlichkeitsarbeiter, Mann und Vater, Leser und Filmfreak. Kindheit in den 1970ern, weswegen mich bis heute seltsame Musik mit Ohrwürmern plagt. Aufgewachsen in den 80er Jahren, einem Jahrzehnt, das nicht halb so grau war, wie die anderen glauben. Erste Kurzgeschichte mit 13, erster echter Romanversuch (nach pubertären Ausfällen) mit 17, die nachfolgende Schreibblockade habe ich mir mit Songtexten für die Kölner Psychobillyband "Boozehounds" vertrieben. Danach ging es wieder: Erster lesenswerter Roman mit 26, seither nicht mehr aufgehört.
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