schreckenbergschreibt – Türchen Nr. 9: Recherche

Ich bin, das ist mir gestern mal wieder aufgefallen, ein ziemlicher Recherchenazi. Oder, freundlicher formuliert: Ich lege Wert darauf, dass eine Geschichte dort, wo sie wahrhaftig sein kann, wahrhaftig ist. Dabei stelle ich mir gar nicht die Frage „ist es wahrscheinlich, dass …?“ oder „ist es zu erwarten, dass …?“, sondern „ist es plausibel, dass… ?“ oder auch „ist es möglich, dass… ?“ (Eine andere wichtige Frage ist, „kann ich vor meinem Gewissen vertreten, zu behaupten, dass …?“ aber das ist eine Frage, die NACH der Recherche kommt, siehe unten.) Um das aber beurteilen zu können, muss ich erst einmal recherchieren. Gestern sah ich zwei Folgen einer Fernsehserie (keiner für die ich schreibe) bei der mir echt schlecht wurde, soviel war da falsch. Ich bin der Meinung, sowas sollte, sowas DARF sich jemand mit einem professionellen Anspruch nicht erlauben. Und das gilt nicht nur für Drehbücher, sondern selbstverständliche auch für Romane und Kurzgeschichten, von Dokumentationen und anderen journalistischen Formen rede ich mal gar nicht.

Aber warum eigentlich? Stößt es Leser*innen und Zuschauer*innen auf, wenn etwas schlecht recherchiert ist? Fairerweise muss man wohl sagen: Manchen schon, den meisten nicht. Wenn ich Rezensionen schlecht recherchierter Bücher lese oder Besprechungen schlecht recherchierter Drehbücher, dann stelle ich fest – dem Publikum und auch der professionellen Kritik scheint das relativ egal zu sein. Und ist es nicht vielleicht wirklich egal? Wem tut es weh, wenn ein Pathologe den Todeszeitpunkt des Opfers auf die halbe Stunde genau bestimmen kann? Schadet das irgendwem? Ich meine – Ja! Und ich habe drei Argumente dafür:

1.) Die Welt der Zuschauer*innen

Wir Autor*innen schaffen Welten. Mit jeder einzelnen Geschichte. Wenn unsere Geschichten aber in der realen Welt spielen, dann möchten wir, dass das Publikum unsere Welt mit der realen Welt verwechselt. Gerade aber, wenn in meiner Welt Elemente auftauchen, mit denen sich die Zuschauer nicht gut auskennen (zum Beispiel Forensik und Pathologie), sollte ich nicht beliebig werden. Denn wenn ich mir erlaube, beliebig zu sein, dann muss ich es natürlich auch bei allen Kolleginnen und Kollegen hinnehmen. Und dann kann man eben mal einen Todeszeitpunkt auf eine halbe Stunde festlegen, mal auf zehn Minuten und mal auf drei Tage genau, je nachdem, was ich in meiner Faulheit gerade passend finde. Da braucht dann ein DNA Test mal zwei Stunden und mal zwei Wochen, bis er fertig ist. Mal kann man einen Schwertstreich mit der Klinge eines Katana parieren, mal nicht. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer, Leserinnen und Leser bedeutet das: Nichts ist sicher. Erfahrungswerte aus anderen Geschichten bedeuten nichts, alles ist beliebig und damit, letztlich: Langweilig. Ich glaube sogar, was den Fernsehkrimi angeht, haben wir diesen Punkt schon erreicht. Es ist ewig her, dass ich mal die Banalität des Bösen gesehen habe, einen schlichten Mord aus Habgier, gut ermittelt und aufgeklärt. Und ich glaube, dazu dass es das kaum noch gibt, trägt die verbreitete Recherchefaulheit bei. Wenn das Publikum bei der Ermittlung alles für beliebig hält, müssen Spannung und Tiefe eben anderswo her kommen.

2.) Die Welt der Autor*innen

Mangelnde Recherche ist zunächst einmal Lazy Writing. Ich habe keine Lust, etwas zu recherchieren, also schreibe ich mal so, wie ich es mir denke. Wird schon passen, ich habe ja Phantasie, und es merkt eh keiner. Abgesehen davon, dass das ziemlich größenwahnsinnig ist (besonders, wenn man es auf jedes Thema ausdehnt), ist es auch falsch. Und hier spreche ich aus eigener Erfahrung. Ich habe als junger, schüchterner Mensch sehr viel auf diese Art geschrieben, und es ist sehr schlecht, bis hin zur Lächerlichkeit. Dass Recherche nicht nur eine moralische Verpflichtung ist (siehe oben und unten), sondern auch die Arbeit immens erleichtert, das ist eine Lernerfahrung. Ich habe es ziemlich schnell gelernt, vielleicht, weil ich vor allem Phantastik schreibe. Gerade Autor*innen phantastischer Geschichten müssen sich davor hüten, beliebig zu werden. Erstens nimmt das der Geschichte jede Spannung. Wenn ich eine Geschichte in einer magischen Welt schreibe, und sich jedes Problem mit einem Zauberspruch lösen lässt, dann ist das langweilig. Wenn jemand im „Finder“ oder in den „Nomaden“ mit einem G3-Gewehr sieben Heuler gleichzeitig ausschaltet, dann ist das ebenso langweilig. Die Waffe hat keine Streuwirkung, in der Realität ist das nicht möglich. Wenn es aber in der Geschichte möglich ist – was soll dann für meine Figuren unmöglich sein? Und wenn meine Figuren potentiell omnipotent sind, woher soll dann Spannung kommen?

Hinzu kommt der Fluch der Lüge. Für jede Lüge gilt: Um sie aufrecht zu erhalten, muss ich mehr lügen, je weniger Wahrheit sie enthält. Jede Geschichte ist eine unwahre Behauptung. Sie ist keine Lüge (weil wir nie behaupten, sie sei wahr) aber sie verhält sich so. Wenn die Geschichte nun viele weitere unwahre Behauptungen enthält, dann wird es immer schwieriger, eine in sich stimmige, logische Geschichtenwelt aufrecht zu erhalten. Wer da noch unnötige unwahre Behauptungen hinzufügt, weil er oder sie auf Recherche verzichtet, macht sich das Leben vielleicht im ersten Moment leicht – aber nach hinten hin wird es ein fürchterlicher Aufwand, an dem die meisten scheitern. Und dann ist die Geschichte eben schlecht. Das einfachste Beispiel hierfür:

Ich war noch nie in Münster. Wenn nun meine Geschichte zwingend verlangt, dass ein Kapitel in Münster spielt, kann ich mir mein Phantasiemünster ausdenken. Das ist im ersten Moment einfach und endet in einem Chaos selbst gemalter Karten, Straßenlisten und Verzweiflung. Die (zunächst) zweiteinfachste Lösung ist, Google Maps zu rate zu ziehen. Aber davon weiß ich vielleicht, wo ein Parkplatz ist und welches Haus an welcher Straße steht. Aber ich habe nicht mehr als ein statisches Bild, keine Bewegung, keine Geräusche und Gerüche, keine Atmosphäre. Es mag aufwändig erscheinen, für ein oder zwei Tage nach Münster zu fahren, sich die Stadt anzusehen, Fotos und Notizen zu machen. Aber mit dem Material, das man dann hat, ist man so sehr auf der sicheren Seite, dass es letztlich doch die einfachste Lösung ist.

3.) Die Welt

Wir sind keine Journalistinnen und Journalisten, richtig. Aber unser Publikum vertraut uns. Unsere eigenen Vorstellungen und Ideen nicht zu überprüfen, Behauptungen aufzustellen, Klischees zu transportieren, unsere Sicht der Welt ungeprüft als die Welt zu verkaufen ist unredlich. Und die Ausrede „es ist ja nur eine Geschichte“ zählt nicht. Das Publikum ist nicht dumm, es weiß, dass wir erfundene Geschichten erzählen. Und dennoch formen wir sein Bild von der Welt. Die Menschen, die glauben, Deutsche Polizisten müssten sie an Ort und Stelle über ihre Rechte belehren (weil sie das in 1000.000 amerikanischen Medien gesehen haben) oder erwarten, dass der Dieb, der ihr Fahrrad gestohlen hat, per DNA-Abgleich (weil der in jedem zweiten Krimi der Deus-Ex-Machina für jedes Verbrechen ist) gesucht wird, sind nicht dumm oder ungebildet. Sie haben nur einfach andere Probleme als die Frage, wie eine Ermittlung in Wirklichkeit abläuft. Sie wissen auch, dass wir die Realität dramatisieren. Aber sie vertrauen uns doch, unbewußt, und wir Formen ihr Bild von der Realität. Und das verschärft, wenn es um Menschen, Menschengruppen und Minderheiten geht. Deshalb ist es unsere verdammte Pflicht und Verantwortung, so wahrhaftig zu sein, wie die Geschichte es zulässt. Und keine Geschichte verlangt Lazy Writing.

Über Mountfright

Autor und Öffentlichkeitsarbeiter, Mann und Vater, Leser und Filmfreak. Kindheit in den 1970ern, weswegen mich bis heute seltsame Musik mit Ohrwürmern plagt. Aufgewachsen in den 80er Jahren, einem Jahrzehnt, das nicht halb so grau war, wie die anderen glauben. Erste Kurzgeschichte mit 13, erster echter Romanversuch (nach pubertären Ausfällen) mit 17, die nachfolgende Schreibblockade habe ich mir mit Songtexten für die Kölner Psychobillyband "Boozehounds" vertrieben. Danach ging es wieder: Erster lesenswerter Roman mit 26, seither nicht mehr aufgehört.
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