Den Seraph habe ich also nicht bekommen – Kai Meyer hat ihn erhalten, für seinen Roman „Asche und Phönix“. Sagen wir es mal so: Es gibt durchaus schmachvollere Niederlagen. 😀 Über meine Erlebnisse und Eindrücke von der Leipziger Buchmesse blogge ich die Tage mal – jetzt geht es um etwas anderes:
Ich hatte mir vorgenommen, noch vor der Buchmesse alle Bücher, die es mit meinem Sergej auf die Shortlist des Seraphen geschafft hatten zu lesen, um zu wissen, gegen was und wen ich da antrete. Das ist mir leider nicht gelungen – die Zeit vor Leipzig wurde plötzlich eine sehr dichte und arbeitsreiche Zeit mit wenig Muße zum Lesen. Dafür hole ich das jetzt nach. Und ich berichte Euch hier, ob, wie und warum mir die Bücher gefallen haben. Dass sie gut sind, davon gehe ich mal aus, sonst wären sie kaum in die engere Auswahl für den Preis gekommen. Und den Anfang macht:
von Zoran Drvenkar
(Bild: Random House)
Inhalt
Motte lebt das Leben eines ziemlich normalen Teenagers – er geht zur Schule, hängt mit seinem Kumpel Lars ab, ist verliebt in und irgendwie zusammen mit Rike… kennt man. Er wohnt bei seinem alleinerziehenden Vater in Berlin, die Mutter hat die beiden unter etwas bizarren Umständen sitzen lassen – auch nicht allzu ungewöhnlich. Gut – einige Monate vor Beginn der Handlung sind Lars und er dem Attentat eines offensichtlich Irren mit einem Tomahawk entgangen, aber herrjeh: Berlin. Was will man erwarten. Nein, Motte hat keinerlei Grund daran zu zweifeln, dass er ein sehr gewöhnliches Leben führt, abgesehen davon natürlich, dass kein Teenager jemals sein Leben für gewöhnlich hält. Und als ihm also eines Abends Unbekannte seinen bevorstehenden Tod per E-Mail ankündigen, hält er das für einen blöden Scherz und ist entsprechend erstaunt, dass er am nächsten Morgen wirklich tot ist. Und noch erstaunter ist er natürlich darüber, dass er noch staunen kann.
Mit dem Tod seinse Helden beginnt Zoran Drvenkar seinen Roman und nimmt uns danach mit auf eine wilde Reise, Jahrtausende zurück in eine mythische Vergangenheit, dann wieder an den Wannsee unserer Tage, auf einen russischen Landsitz Anfang des 19. Jahrhunderts, zu einem einsamen Haus in Irland und zu einem ebenso einsamen Haus in Norwegen, Jahre zuvor, wir treffen Engel und eine Kriegerkönigin, Killer und Großstadtkids, die Geister toter Mädchen und ihre einzig überlebende Freundin, russische Adlige und die Brüder Grimm und, und, und, und am überraschenden und offenen Ende spuckt die Geschichte uns wieder aus und wir müssen erstmal nach Luft schnappen.
Klingt nach einer Achterbahnfahrt? Allerdings – aber es ist Zoran Drvenkars Achterbahn, und deshalb bin ich niemals aus der Spur geflogen und konnte die rasante Fahrt aufs Höchste genießen. Und mehr zu sagen hieße zu spoilern.
Urteil
Vorab: Ich bin ein Fan von Zoran Drvenkar, ich mag seine Geschichten, die immer überraschend und klug geflochten sind, und ich mag seinen Stil. Ich mag aber auch Laphroaig. Und mit den Büchern von Drvenkar ist es ein wenig wie mit diesem Single-Malt: Die Geister scheiden sich daran. So wie viele den reichen aber strengen Geschmack dieses speziellen Islay-Malts als Angriff auf ihre Geschmacksknospen empfinden, so stören sich auch viele an Zoran Drvenkars Stil, diesem Mix aus Perspektiven, diesen Sprüngen zwischen Zeiten und Ebenen, dieser teilweise bis zur Künstlichkeit ausgefeilten Sprache. Man muss das mögen, um ein Buch wie „Der letzte Engel“ genießen zu können. Ich mag es sehr – aber ich verstehe durchaus, dass das nicht jedermanns Sache ist. Es ist tatsächlich eine reine Geschmacksache, und damit wertfrei.
Wessen Geschmack das aber trifft, der wird am „letzten Engel“ seine Freude haben, genau wie ich. Dieser Roman gilt beim Verlag als Jugendbuch. Hm. Um es direkt zu sagen: Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, das hier sei zu hart für Jugendliche. Wer aufgespießte Babys in „Eragon“ wegstecken kann, der wird auch die blutigen Szenen im „letzten Engel“ wegstecken. Und ja – die Geister der toten Mädchen sind gruselig. Aber auch da gibt es Schlimmeres. Womit der/die jugendliche Leser(in) umgehen können sollte, sind Morde an Kindern, denn davon gibt es hier nicht wenige, und das ging mir, als Vater, am nächsten. Also nichts für die Fraktion der belesenen 12jährigen, würde ich sagen, aber für abgehärtete Leseratten ab 14: freie Bahn.
Womit ich im Umkehrschluss auch nicht sagen will, dieses Buch sei nichts für Erwachsene. Neineinnein! Ich habe es sehr genossen und fühlte mich die ganze Zeit über angesprochen, konnte mich mit einer 10jährigen ebenso identifizieren wie mit Motte, mit einem jahrtausendealten Engel, und ja, auch mit Lazar, dem Killer mit Mission. Um das hinzubekommen muss ein Autor schon einiges können, und Zoran Drvenkar kann.
Besonders gut hat mir gefallen, dass in diesem Roman nie geklärt ist, wer gut ist und wer böse. Am Anfang scheint das alles sehr klar, aber das ist eine Falle – und zwar eine, die einen nicht am Ende mit einem simplen „Ach so, es ist genau andersherum“ entlässt. Wer „Der wandernde Krieg – Sergej“ gelesen hat wird sich kaum wundern, dass ich das mag.
Einzige Einschränkung: Zum Schluss hatte ich das selbe Gefühl wie beim Film (!) „Wächter der Nacht“. Da bin ich die ganze Zeit einer faszinierenden Handlung gefolgt und dann? War das wirklich nur der erste Akt? Ich bin gespannt, wie es weiter geht…