Zu Beginn von Sarahs und meiner Geschichtenerzählaktion hatte ich Euch ja vor allem Phantastik versprochen, insbesondere Horror (oder, wie man das meiste, was früher Horror war, heute nennt: Mystery). Die eine oder andere Krimigeschichte ist auch dabei, weil ich eben auch Krimis schreibe. Was ich hingegen fast nie schreibe sind autobiographische Geschichten. Klar, man kann darüber trefflich diskutieren, inwiefern jede belletristische Geschichte irgendwie auch autobiographisch ist, aber Ihr wisst was ich meine: Wahre Geschichten, genau so passiert. Erstens will ich mit meinem Privatleben nicht hausieren gehen (und wenn, dann hier im Blog 😀 ) und zweitens ist das jetzt auch nicht sooooo interessant.
Es gibt allerdings zwei Ausnahmen – zwei autobiographische Kurzgeschichten, die ich aber nie veröffentlicht habe, abgesehen davon, dass ich sie in dem Autorenforum, in dem Sarah und ich uns kennengelernt haben, mal online gestellt und besprochen habe.
Heute ist aber der richtige Tag für eine davon, finde ich. Ich habe heute den Großeinkauf für eine Familie aus fünf Erwachsenen gemacht, und ratet, was ich nicht bekommen habe? Richtig. Klopapier und Mehl. Es ist bizarr – Brot? Kein Problem. Getränke, Gemüse, Obst, Fleisch, Milch, Salz, Zucker … alles Grundnahrungsmittel? Ausreichend vorhanden, wenn man von Nudeln mal absieht. Aber eine Welle von irrsinnigen Hamsterkäufern hat zu Beginn der Krise bei ganz bestimmten, keineswegs unersetzlichen Gütern eine künstliche Verknappung hergestellt, auf die sich unsere moderne Just-in-Time-Logistik noch nicht einpendeln konnte. Vielleicht war die Sache mit der Lagerhaltung doch gar nicht so dumm…
Naja… Mich hat das jedenfalls daran erinnert, wie ich einmal – es muss 2001 oder 2002 gewesen sein – auf der verzweifelten Suche nach einem knappen und wertvollen Gut durch das Herzogtum Lauenburg geirrt bin. Damals war ich noch PR-Berater in einer Agentur und der Name, unter dem ich mich im Internet hauptsächlich bewegte, war „Razorback“:
(Wieder unter der Lizenz Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0)*)
No Booze in the North
von Michael Schreckenberg
„Jo – das war’s dann.“ Ich klappe meine metallene Kladde zu, die eigentlich gar nicht meine ist, sondern die meiner Frau und sehe den Exportleiter an. Er sieht zurück und nickt.
„Jo.“
Wir stehen auf und reichen uns die Hand. Sein freundliches Mondgesicht lächelt. Ich mag die Norddeutschen, die Schleswig-Holsteiner besonders. Sie sind so cool, wie die Hamburger gerne wären und wie die Düsseldorfer nicht einmal wissen, dass man sein kann. Natürlich ist das mit dem stets gelassenen, unerschütterlichen Norddeutschen ein blödes Klischee. Nur – alle, die ich kenne sind wirklich so. Der Exportleiter lächelt, es ist ein professionelles Lächeln, aber es wirkt trotzdem warmherzig. Wenn meine Düsseldorfer Kunden professionell lächeln sieht das aus, als hätte ich ihnen gerade in die Eier getreten. Ob sie ahnen, dass ich ihnen wirklich gerne einmal… aber lassen wir das. Den Exportleiter jedenfalls will ich nirgendwo hin treten.
Er geleitet mich aus dem kleinen Besprechungsraum, verspricht mir noch einmal, die Unterlagen die ich für meinen Artikel brauche, von seinem italienischen Partner anzufordern, wir verabschieden uns. Als ich den Raum verlasse, ist er bereits in ein Gespräch mit einer seiner Mitarbeiterinnen vertieft. Ich gehe durch den Büroflur, klopfe beim Marketingchef an und öffne die Tür. Ich weiss, dass er nicht da ist, aber mein Werbeleiter hat mich gebeten, nachzusehen, ob er das Poster bekommen hat, dass wir ihm geschenkt haben. Hinter der Tür eine staubige, leere Rohbauhöhle. Stimmt, die bauen ja um.
Ich gehe zum Ausgang, unterhalte mich kurz mit der Rezeptionistin, die heute krank aussieht und gestresst. Aber sie ist freundlich und ihr Humor hat offenbar nicht gelitten. Ich frage sie nach dem Poster, es ist noch nicht angekommen. Ich gehe schnell, um nicht ein weiterer Stressfaktor zu werden und nehme mir vor, sie morgen, wenn ich die Unterlagen der Italiener abhole, mal zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Für mich jedenfalls ist der Arbeitstag angenehm früh beendet, ich packe das Recherchematerial über die türkischen und die Hong-Kong-Projekte in den Wagen und fahre vom Gelände.
In der Nähe meines Kunden gibt es einen „direkt“-markt. Mein Plan für den Abend sieht vor, im Hotel in aller Ruhe an „Der Sänger und der Puppenspieler“ weiter zu schreiben und dazu einen leckeres Glas Single Malt zu trinken. Ich brauche sowieso neuen, meine Vorräte zu Hause sind arg dezimiert. Als ich das letzte Mal hier war hatte der direkt eine kleine Auswahl brauchbaren Giftes der niedrigeren Preisklasse, Glendronach, Scapa, Glenmorangie und zehnjährigen Laphroaig. Gerade den Scapa und den Laphroaig mag ich gerne und die Tatsache, dass man sie inzwischen sogar im Walmart bekommt, schmerzt zwar den Genießer, aber sie hat eben auch ihre Vorteile. Vor allem preisliche.
Der direkt enttäuscht mich bitter. Kein Single außer Glenfiddich und Loch Lomond. Letzerer ist zwar theoretisch trinkbar, aber nicht, wenn man sich auf einen Laphroaig eingestellt hat. Ich werde woanders suchen müssen. Zunächst aber ins Hotel.
Offenbar bin ich in der heimlichen Gäste-Hierarchie aufgestiegen. Mein Zimmer hat – zum selben Preis wie immer – diesmal neben einer kleinen Küchenzeile auch einen Balkon mit herrlichem Blick auf den See. Schade, dass das Wetter so mies ist, die Idee, auf dem Balkon zu schreiben, den Laptop vor und den Malzschnaps neben mir, hat grossen Reiz.
Ich ziehe mich um und rufe meine Liebste an. Alles im Lack zu Hause. Meine Tochter hat mitbekommen, dass Mama telephoniert, vermutet mich am Telefon und krabbelt herbei „Papapapapa?“. Die Liebste lenkt sie ab, wenn die Kleine jetzt mit mir spricht und ich dann heute Abend nicht nach Hause komme, macht sie das nur traurig. Dann fällt der klugen Frau noch ein, dass zwei Nachnahmepakete angekommen sind. Die Musikanlage für unsere neue Familienkutsche und drei CDs von den Mad Heads, die ich neulich bei Crazy Love Records bestellt hatte. Ich bin positiv überrascht, dass es so schnell ging. Gute Nachrichten. Ich berichte von meiner geplanten Whiskysuche. Sie lacht.
„Viel Spass. Und wenn Du keinen Laphroaig findest, kauf Dir einen guten Cognac.“
Ich lache auch, aber eigentlich will ich nichts von Cognac wissen. Ich will, will, will Laphroaig.
Eingedenk der CDs, die zu Hause auf mich warten, lege ich mich aufs Bett, packe eine Mad Heads Hörprobe die Freund Sick mir gebrannt hat in den Discman und ziehe mir dreimal hintereinander „Psycholella“ rein. Danach bin ich in Stimmung, die Jagd zu beginnen.
Zuerst suche ich in der Stadt, in der ich hier wohne, aber das stellt sich schnell als fruchtlos heraus. Karstadt – sonst eine erstaunlich gute Adresse für Single Malt – hat hier nicht mal eine Lebensmittelabteilung. Einen richtigen Spiritousenhändler gibt es natürlich nicht. Ein Piercing-Studio und ein Fachgeschäft für gebrauchte Play-Station Artikel (gut sortiert übrigens), aber keinen Schnapshändler. Ich verlasse die Stadt, gerate auf die falsche Strasse und irre erstmal ein wenig durch das Outback des Herzogtums Lauenburg. Ich habe keine Eile, im Radio laufen Oldies, ich weiss aus Erfahrung, dass hier sämtliche Strassen letztlich nach Hamburg oder Lübeck führen, also lasse ich mich von Dorf zu Dorf treiben. Ich meditiere ein wenig über die Tatsache, dass schleswig-holsteinische Dorfnamen nach preußischem Generalstab klingen und singe ein paar Oldies mit. In den Dörfern gibt es natürlich auch keine Whiskyverkäufer, jedenfalls nicht solche, die den Stoff in Flaschen feil bieten. Genaugenommen sehe ich gar keine Läden. Mich beunruhigt das nicht, ich setze meine Hoffnung in die grösseren Städte längs der Bundesstrasse. Städte. Na ja – „Städte“.
Die Bundesstrasse ist bald wiedergefunden und lässt mir die Wahl zwischen – surprise – Hamburg und Lübeck. Ich wähle Hamburg. Irgendwo im Hinterkopf spielt vielleicht der Gedanke mit, dass ich mich ja notfalls in Hamburg ganz gut auskenne, falls es hier auf dem Land keinen Laphroaig gibt. Ich grinse über mich selbst. Für einen Schnaps nach Hamburg. So blöd bin ich dann doch nicht.
Die erste „Stadt“ an der Bundesstrasse ist eine Enttäuschung. Ich habe kaum Luft geholt, da liegt sie auch schon hinter mir. Eine Tanke, ein Gasthaus, eine Kreuzung, das war’s. Kein Edeka, kein Walmart, schon gar kein Laden namens „Harmsens Whisky“ oder so. Der Oldie Sender spielt immer noch. Norddeutsche Sender haben – das ist scheinbar ein Naturgesetz – die bessere Musik aber die dämlicheren Sprüche. Sie werden nicht besser, wenn man sie alle fünf Minuten hört. Ausserdem ist der Sprecher ein Idiot, er soll auch nicht sprechen, er soll die besten Oldies der 60er, 70er und 80er spielen. Immerhin – die Nachrichtensprecherin heisst Tabeah Thomsen. Ich finde, der Name klingt erotisch. Die Stimme auch. Leider liest sie nur die Nachrichten. Ansonsten redet der Idiot.
Ich habe inzwischen drei weitere Orte, drei weitere Tankstellen und fünf weitere Gasthäuser passiert. Und zwei Penny-Märkte. Penny hat keinen Single Malt.
Noch zwei Tankstellen weiter beginne ich, an MiBo aus dem Forum zu denken. Die ist aus Schleswig-Holstein. Die soll mir gefälligst erklären, warum ein durstiger Mann in ihrem komischen Land keinen guten Whisky bekommt. Ich werde sie morgen fragen, wenn ich wieder im Netz bin. Der Idiot im Radio macht einen Witz. Warum tut er das? Er soll Oldies spielen.
Ich klammere meine Hoffnung an die nächste Stadt, die diesen Namen verdient – sie heisst Schwarzenbek. Könnte auch ein preußischer General sein und hiess nicht mal ein Fussballer so? Vor meiner Zeit…
Am Ortseingang begrüßt mich ein Penny Markt. Ich erkenne ein schlechtes Omen, wenn ich eins sehe. Mit wachsender Verzweiflung fahre ich durch die Stadt. Es gibt hier eine Mange Läden, mehrere chinesische Restaurants, ein Piercing Studio aber kein… In meiner Verzweiflung fahre ich auf den Parkplatz des örtlichen Lidl. Die Niederlage ist natürlich vollkommen. Die Leere, mit der ich in das Regal voll billigen Sprits starre, erntet mir ein paar mitleidige Blicke. Mitleidige Blicke vom Schwarzenbeker Lidl-Publikum. Ich beeile mich, raus zu kommen.
Ich verlasse Schwarzenbek und auf dem Wegweiser stehen links nur noch zwei Namen: Lauenburg und Hamburg. Rechts sind vergangene Enttäuschungen aufgelistet. Sollte ich wirklich bis Hamburg… das wäre zu peinlich. Immerhin – Lauenburg gibt der Gegend hier ihren Namen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Der Sprecher des Oldie Senders scheint meinen persönlichen Hass auf sich laden zu wollen, denn nun spricht er über Leverkusen. Über Bayer, um genau zu sein, noch genauer über Bayer 04. So schönen Fussball hätten die gespielt. Und Liverpool. Und Manchester. Und dann Nürnberg. Und jetzt sieht es schlecht aus. Schade, schade. Mund halten, Cretin! Der letzte Spieltag kommt erst noch. Und wir brauchen Euer Mitleid nicht. Schleswig Holstein hat nicht eine Mannschaft in der Bundesliga und Pauli steigt ab. Kümmert Euch besser um Eure Whiskyversorgung, Fischköppe!
Lauenburg voraus. Es sieht enttäuschend klein aus. Rechts in einer Senke ein famila-Markt, dann das Ortsschild, die erste Kreuzung – Moment! famila?!
Ich wende auf der Kreuzung, mein Wagen hat Hamburger Kennzeichen, hier erwartet man von solchen Wagen eh nichts Gutes. famila! Gott schütze die Bundeswehr. Hätte ich mein Jahr nicht in Hamburg verbracht, ich wüsste nicht, was famila ist. Im Rheinland gibt es das nicht.
Der famila ist die Hölle der letzten zweieinhalb Stunden im Kleinen. Dort, wo ein grosses, leuchtendes Schild Getränke ankündigt, gibt es keine harten Spirituosen, nur Bier. Ich mag kein Bier. Man soll es noch einmal destillieren, dann ist es Whisky. Apropos – wo ist der Whisky?
Ich irre durch den famila und weigere mich zu glauben, dass es hier keinen Schnaps gibt. Irgendwoher muss der Lauenburger doch seinen Küstennebel bekommen. Und dann, endlich in der Nähe der Kassen…
Ich sehe Dimple und Tullamore, die ganzen Blends, sehe Glenfiddich und dann: Glenmorangie. Laphroaig.
Laphroaig.
Ich bin zu müde, um mich zu freuen. Eigentlich will ich ihn gar nicht mehr. Seit sie ihn überall verkaufen, ist die Qualität sowieso nicht mehr dieselbe. Sick Steve meint, ich bilde mir das nur ein, aber ich bin der Islay-Fanatiker von uns beiden. Ich würde mich jederzeit seinem Urteil über Talisker oder Scapa beugen, aber Laphroaig…
Ich nehme die schmucklose, weiß-grau-schwarze Pappdose in die Hand. Sie ist etwas schmutzig, oben am Rand. Sauerei sowas. Sie behandeln den guten Tropfen nicht mal mit dem nötigen Respekt. In der Flasche, die in der Dose verborgen ist, gluckert der Whisky mir zu. Ja, ich freue mich auch, Dich zu treffen. Gesunkene Qualität hin oder her, er ist dem ganzen anderen Zeug in dieser Preisklasse immer noch tausendmal überlegen. Ich nehme ihn mit.
Fast an der Kasse fällt mir ein, dass ich vielleicht nicht nur trinken, sondern auch essen sollte. Das Restaurant im Hotel ist zu teuer. Ich gehe in die Exoten-Ecke und suche eine Dose Miso-Suppe aus. Krabben, fällt mir ein, wären gut nach der Miso-Suppe. Hausmacher-Sushi für bedürftige Razorbacks. Gute Idee.
Ein letztes Mal narrt mich der famila, dann finde ich die Krabben in der „Milch und Butter“-Abteilung. Ich bin jenseits davon, mich zu wundern, ich gehe zur Kasse. Vor mir eine Familie mit zwei randvollen Einkaufswagen. Die Mutter schaut kurz auf, sieht mich an und schnell wieder weg. Ich kann mir denken, warum. Ich bin stark kurzhaarig, zu klein für mein Gewicht, schwarz angezogen und mache vermutlich ein Gesicht, in dem sich meine ganze Vorliebe für diesen Volksstamm ausdrückt, der nur eine Whiskyverkaufstelle auf zehntausend Quadratkilometern aufweist, Leverkusen bemitleidet und seine Krabben in der Rubrik „Milch und Butter“ versteckt. Wenn ich in ähnlicher Stimmung durch meine Stadt gehe, geben mir zuweilen Jugendbanden den Weg frei. Was soll’s.
Sie schaut wieder auf, ich starre zurück. Dann lächelt sie warm und sagt:
„Wollen sie nicht vorgehen?“
Ich brauche einen Moment, bis ich verstanden habe. Dann stammele ich einen Dank, schiebe mich am ersten Einkaufswagen vorbei, sehe sie noch einmal fragend an und werde freundlich weiter gewunken. Ich stelle meine Miso-Suppe, die Krabben und den Whisky aufs Band, lege noch eine stilechte famila-Papiertüte hinzu, werde von der Kassiererin freundlich begrüßt, schnell abgefertigt und verabschiedet. Ich verabschiede mich ebenfalls, bedanke mich noch einmal bei der Familie, die schwer damit beschäftigt ist, den Inhalt der beiden Einkaufswagen auf das Band zu laden und verlasse famila Lauenburg.
Auf der Rückfahrt gluckert mein Laphroaig fröhlich vor sich hin und klickt hin und wieder gegen die Suppendose. Im Radio verliest Tabeah Thomsen mit ihrer schönen Stimme die Nachrichten.
Sagte ich schon, dass ich die Norddeutschen mag?
ENDE
*Dies ist eine allgemeinverständliche Zusammenfassung der Lizenz und Haftungsbeschränkung (die diese nicht ersetzt).
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