Neulich las ich in irgendeinem Social Medium (Facebook, glaube ich, bin aber nicht sicher) eine Diskussion zu Sons of Anarchy, einer Serie, die ich – wie an anderer Stelle bereits erwähnt – sehr schätze. Hier beschwerte sich nun ein Diskutant bitterlich, die Serie bilde nicht „Das wahre Rockerleben“ ab. Traun, welch schröcklicher Vorwurf!
Um das gleich zu sagen: Zum Thema „echtes Rockerleben“ kann ich gar nichts beisteuern, weil ich kein echter Rocker bin. Genaugenommen bin ich gar kein Rocker. Ich höre zwar gerne Rockmusik, habe aber nicht einmal einen Motorradführerschein. Und wenn ich in letzter Zeit öfter darüber nachdenke, einen zu machen, frage ich mich, ob das wirklich Vernunft ist (um einen Zweitwagen zu vermeiden) oder einfach nur eine beginnende Midlife-Crisis. Zum „Rockerleben“ ist also von mir nichts Substantielles zu erwarten.
Ich habe nicht mitdiskutiert, weil solche Diskussionen im Netz unglaublich fruchtlos sind. Aber ich rufe dem enttäuschten Diskutanten und all seinen Brüdern und Schwestern im Geiste hiermit zu: „Ihr habt da was falsch verstanden!“ Denn Sons of Anarchy ist keine Motorrad-Doku. Es ist eine Unterhaltungsserie.
Gerade als Krimiautor – der ich ja seit den „Träumern“ auch bin – begegnet man diesem Denkfehler unglaublich oft. Jede Woche beschwert sich in irgendeinem Medium irgendein Polizist, in Krimis werde „die Polizeiarbeit nicht richtig dargestellt“. Wenn es um Geschichten geht, die an real existierenden Orten spielen, gehen tatsächlich manche Leser die Strecke ab und beschweren sich dann, wenn irgendein Straßenschild oder Baum nicht stimmt (ist mir noch nicht passiert – also die Beschwerde – habe ich aber von Kollegen so gehört). Und ich nehme mich da selbst nicht aus. Ich verstehe zwar wenig von Rockern und Polizeiarbeit, dafür aber zum Beispiel einiges von Selbstverteidigung und Nahkampf. Und wenn ich dann eine fein choreografierte Schlägerei im Film sehe, dann denke ich auch meist: „Was für ein Quatsch.“
Zu Unrecht! Es ist, glaube ich, eine sehr deutsche Sichtweise zu verlangen, ein Stück Fiktion solle vor allem realitätsnah sein. Eine Sichtweise übrigens, die uns Autoren Phantastischer Literatur das Leben schwer macht und dazu führt, dass wir immer wieder – zuletzt auf der Leipziger Buchmesse – spontan alle in den Kinder- und Jugendbuchtopf geworfen werden. Sind ja alles Märchen, gibt es ja alles nicht. Um es einmal deutlich zu sagen:
KEINE FIKTION BILDET DIE REALITÄT AB!
Nein, auch nicht das neueste Sozialdrama! Nein, auch nicht die historische Serie, sei sie noch so atmosphärisch dicht und auf Autenthizität getrimmt. Aus zwei Gründen:
1.) Dramaturgie
Wie einer meiner Drehbuchlehrer einst sagte: „Kein Film entspricht der Wirklichkeit, denn die Wirklichkeit hat keine dramatische Struktur.“ Amen! Und das trifft für Bücher ebenso zu. So spannend unser Leben mitunter scheint, es folgt keiner Dramaturgie. Das kann jeder leicht selbst überprüfen, und zwar gerade anhand spannender Begebenheiten aus dem eigenen Leben. Natürlich gibt es dramatische Momente, Wendepunkte, Entscheidungen, Konflikte – alles, was eine gute Dramaturgie ausmacht. Aber wer einen dieser Momente aus dem eigenen Leben als Angelpunkt einer Geschichte nehmen möchte stellt schnell fest, dass das, nur für sich, mit Glück eine Kurzgeschichte sein kann. Niemals ein Roman, niemals ein langer Film. Denn die Hinführung zu diesem Punkt im Leben folgt kaum den Regeln der Dramaturgie, ebensowenig wie das Leben danach. Dafür bedarf es der:
2.) Reduktion und Betonung
Selbstverständlich ist es möglich, zum Beispiel einen Roman zu schreiben, der an die eigene erste große Liebe angelehnt ist. Man lebt so vor sich hin, dann begegnet man dem/der Angebeteten und verliebt sich (Übergang 1. zu 2. Akt). So weit so gut. Dann wird es schon schwierig: Im Roman / Film würden nun Hindernisse folgen, sich steigernde Prüfungen, ein Tiefpunkt (Midpoint – ihr seht, es ist eine Drei-Akt-Struktur), usw., usw., bis hin zum Schluss, der sich gefälligst stimmig in die Struktur einzufügen hat. So KANN man seine erste große Liebe erzählen. Aber so erlebt sie, behaupte ich mal, so gut wie niemand. Um sie so erzählen zu können, muss man reduzieren, viel weglassen und dafür gewisse Punkte, die man im Nachhinein als wichtig erkennt, betonen und dramaturgisch herausarbeiten. Hinzu kommen Figuren, die man sowohl aus Anstand als auch aus schriftstellerischer Notwendigkeit anders anlegt, als einen wirklichen Menschen. Meine Figuren sind MEINE Geschöpfe, die ich – wenn es Not tut – ganz und gar durchschauen und gestalten kann. Mit echten Menschen geht das nicht, deshalb hüte man sich vor der Anmaßung, aus echten Menschen im Ernst literarische Figuren machen zu wollen. Figuren können allenfalls Schatten der subjektiven Wahrnehmung echter Menschen sein. Mehr nicht.
Wer also den Anspruch hat, das „echte“ Leben abzubilden, der arbeite journalistisch. Literatur kann auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit (bzw. dessen, was wir für wirklich halten) hinweisen, sicher. Aber sie IST immer nur ihre eigene Wirklichkeit, nicht unsere.
Damit Ihr mich nicht missversteht: Ich bin ein großer Fan gründlicher Recherche! Ich fahre zum Beispiel mit dem Fotoapparat durch die Gegend und erforsche mögliche Schauplätze, für die „Träumer“ habe ich eine Anästhesistin und eine Doktorandin der Chemie interviewt, die Textstellen aus „Wege und Tore“ im „Ruf“ und in „Sergej“ habe ich mir von jemandem der das kann, in frühneuzeitliches Deutsch übersetzen lassen… das sind nur ein paar Beispiel. Und dass Bastian, der Ermittler aus den „Träumern“, PR-Berater und nicht etwa Polizist liegt daran, dass ich selbst PR-Berater bin und nicht etwa Polizist. Denn auch wenn das echte Leben in der Regel viel langweiliger und/oder langatmiger ist, als die Dramaturgie einer Geschichte erträgt – je authentischer die dramatische Konstruktion ist, desto stimmiger, desto besser die Geschichte.
Aber es ist eben die Geschichte, die Grenzen setzt. Wo das Deutsch des 16. Jahrhunderts zu unverständlich war, habe ich es behutsam verfälscht. Denn es ist wichtiger, dass meine Leser verstehen, was Darius von Delft da sagt, als dass dieser ausgedachte Niederländer 100prozentig authentisch schreibt. Und wenn die Geschichte erfordert, dass eine Straßenschlägerei im Film fünf Minuten dauert oder dass im Regiokrimi eine Buche steht, wo in Wirklichkeit eine Platane ist, dann REGIERT DIE GESCHICHTE! Und das gilt eben auch für Rockergeschichten und das wirklich wahre Rockerleben. 😉
Die Sucht nach Realität – hmmm… ein typisch deutsches Phänomen. In Frankreich sieht man es entspannter. Aber interessant, was du da schreibst. Teile ich zu 100 Prozent.
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Deshalb leugnet man in Deutschland auch so gerne die eigene Phantastische Tradition. Goethe? Alles Metaphern! E.T.A Hoffmann? Romantiker! Kafka? Unverständlich! Thea von Harbou? Kennichnich! Andere Nationen / Sprachräume gestehen ihrer Literatur eine Bandbreite zu, die hierzulande nichts ein darf. Ich denke wirklich darüber nach, einige Kurzgeschichten (Horror, Science Fiction) von einem befreundeten Muttersprachler ins Englische übersetzen zu lassen und amerikanischen Magazinen anzubieten. Die Zahlen nämlich Geld für so etwas. Hierzulande hingegen, ach egal…
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