Sooo, da bin ich wieder. Tut mir leid, gestern hat es nicht geklappt – ich habe mich entschieden, in der knappen Zeit die blieb lieber fünf Kilometer sinnlos durch die Gegend zu laufen, den Körper zu schinden und den Geist zu erfrischen, statt zu bloggen. 😉
Dafür gibt es heute aber den nächsten Blick in die Schublade – und diesmal ganz ohne Spoilerwarnung, denn die Geschichte, um die es heute geht, ist mit meinen anderen Geschichtenuniversen nicht verbunden, weder mit dem um Bastian noch mit dem um Langenrath. Die Geschichte ist und hat ihr eigenes Universum und ihr Arbeitstitel ist:
Der Sänger und der Puppenspieler
Die erste Idee zu dieser Geschichte hatte ich als Student, so lange ist das schon her – und am Anfang standen ein Bild und ein Titel. Das Bild war das einer schattenhaften Gestalt, die Marionetten an Fäden hält, der Titel eben besagter Arbeitstitel (von dem ich heute meist die Kurzform „SuP“ benutze – ist kürzer). Ich bastelte an der Grundidee immer mal wieder, begann aber erst, sie ernsthaft niederzuschreiben nachdem ich mit der ersten Fassung des „Ruf“ fertig war. Das muss so um 2000 / 2001 gewesen sein, lange vor meiner ersten Veröffentlichung. Die Geschichte wuchs und wuchs während ich sie schrieb, es ist eine von diesen Erzählungen, die die Tendenz hat, sich auszubreiten, und ich muss höllisch aufpassen, dass sie mir nicht über den Kopf wächst. Im Moment hat sie drei Haupt- und zwei Nebenhandlungsstränge, damit kann ich ganz gut umgehen. Es gibt ja zwei Arten zu schreiben, jedenfalls für mich: Die geplante, sorgsam geplottete Geschichte und die Geschichte, von der ich nur einige lose Wegmarken kenne, die ich aber dazwischen beim Schreiben von selbst wachsen lasse. Das klassische Beispiel für die erste Form sind „Die Träumer“. Einen Krimi muss ich plotten, damit alle Hinweise aufgehen und alles logisch ineinanderpasst, sonst komme ich in Teufels Küche. Ein gutes Beispiel für die zweite Form zu schreiben ist „Der Finder„. Da kannte ich zwar von Beginn an wichtige Szenen, mehr aber auch nicht. Ich wusste auch sehr lange nicht, wie die Geschichte ausgeht. Eigentlich mag ich diese Art zu schreiben mehr, aber sie fordert in der Nachbearbeitung einen sehr hohen Preis – da muss ich dann immer viel streichen, um- und dazuschreiben.
Der Sänger und der Puppenspieler ist nun eine Geschichte die sich SEHR frei entwickelt. Ich habe schätzungsweise die Hälfte geschrieben (mehr als 200 Manuskriptseiten) und ich weiß zumindest, welche meiner Hauptfiguren die Geschichten überleben werden. Bei zwei der drei Haupthandlungsstränge weiß ich auch schon genau, wie das Ende für die Hauptfiguren genau aussehen wird. Aber der Weg dahin ist noch recht unbestimmt, von den üblichen Wegmarken abgesehen.
Meine üblichen Testleser sind einstimmig der Meinung, dass das, was von SuP bisher existiert, das beste sei, was ich je geschrieben habe. Ich bin, das möchte ich betonen, NICHT dieser Ansicht, ich finde etwas anderes besser (ich sage aber nicht, was 😉 ). Aber egal ob jetzt Erst-, Zweit- oder Drittbestes: Das ist immer Geschmacksache, und gelungen finde ich die Geschichte bis hierher schon. Ziemlich gut gelungen, sogar. Es ist eine Urban-Fantasy Geschichte, neben Menschen spielen (intelligente) Tiere und Halbwesen (vergleichbar mit Halbgöttern und Dämonen) eine wichtige Rolle. Das alles spielt im hier und jetzt, also kein klassisches Fantasy-Setting. Eher die Welt die wir kennen und darin eine weitere Welt, die wir einfach nicht bemerken.
Ein besonderer Aspekt macht die Geschichte für mich zunehmend reizvoller: Die Stadt, in der die Geschichte spielt, nenne ich nie beim Namen, aber wer meine Heimatstadt kennt wird unschwer viele Übereinstimmungen mit Leverkusen finden. Ich habe von Anfang an einige wichtige Änderungen vorgenommen, so steht zum Beispiel das Vorbild für das Haus, in dem eine meiner wichtigsten Figuren (Daphne) lebt in Wirklichkeit in Solingen, einen weiteren wichtigen Handlungsort habe ich komplett neu erfunden, etc., etc. – aus diesem Grund habe ich mich entschieden, nicht von Leverkusen zu sprechen. Das war von Beginn eine Art Parallel-Leverkusen.
Da ich schon so lange an dieser Geschichte arbeite, hat dieser Parallelweltaspekt immer mehr an Bedeutung gewonnen. Der wichtigste Teil der Geschichte spielt im Leverkusener Stadtteil Opladen, mit dem ich eine Menge Erinnerungen verbinde, die ich teilweise in die Geschichte habe einfließen lassen. Und gerade Opladen hat sich in den letzten 10 Jahren extrem verändert. Das Schwimmbad, in das mein Protagonist Phillip so gerne geht und das dem Hallenbad entspricht, in dem ich als Jugendlicher beim Schwimmverein trainiert habe? Ist abgerissen. Der Schulhof, auf dem die Hauptfigur eines anderen Handlungsstrangs (Blasius) ein ziemlich gefährliches Abenteuer erlebt (siehe Leseprobe) und der dem Schulhof meines alten Gymnasiums entspricht? Da steht heute eine Turnhalle. Das Bahngelände, das ein wichtiger und wiederkehrender Handlungsort ist? Dort bauen sie gerade (und ich finde das gut!) die Neue Bahnstadt. (Interessanterweise steht aber der Turm, von dem ich in der Geschichte sage, dass dort immer ein Turm gestanden hat und immer stehen wird, weiterhin, und er wird auch nicht abgerissen…)
Ich werde die Geschichte, nachdem ich einige Zeit darüber nachgedacht habe, NICHT den neuen Gegebenheiten anpassen. Das ist ein Parallel-Opladen, und das wird es bleiben – vielleicht meine Art, die Hauptstadt meiner Jugend (denn ist das nicht die Stadt, in der wir zur Schule gegangen sind, ob wir dort gewohnt haben oder nicht?) für mich zu bewahren.
Kommen wir zur Leseprobe. Da die Geschichte, wie gesagt, mehrere Handlungsstränge hat, kann ich Euch diesmal nur einen ganz kleinen Ausschnitt eines dieser Stränge bieten. Die Geschichte hat sehr gruselige und blutige aber auch einige eher witzige Momente, und ich habe mich für einen der lustigeren Entschieden. Dabei ist die Situation für den Protagonisten dieses Ausschnitts eher unlustig. Folgende Situation:
Blasius hat es nicht leicht. Sein Volk – ein sehr altes und kriegerisches Volk – sieht dem entscheidenden Kampf seiner Geschichte entgegen, dem Kampf, auf den es sich buchstäblich seit Jahrtausenden vorbereitet. Es hat dazu eine Armee unter einer erfahrenen und klugen Befehlshaberin zum künftigen Ort der Entscheidung entsandt. Aber: Politik spielt auch bei diesem Volk eine wichtige Rolle. Und da Blasius der Neffe eines wichtigen Politikers ist, hat er – ohne irgendwelche Erfahrung oder auch nur Ausbildung im Militär – einen hohen Offiziersposten bei dieser Expedition erhalten. Er selbst ist damit unglücklich, seine Vorgesetzte ist damit ebenso unglücklich, nur sein Onkel findet die Idee toll und hat die Macht, sie durchzusetzen. Und gleich in der ersten, noch nicht entscheidenden Schlacht führen Blasius falschen Entscheidungen fast in die Katastrophe. Die Befehlshaberin (Stella mit Namen) entzieht ihm sofort sein Kommando, aber degradieren oder nach Hause schicken darf sie ihn nicht. Statt dessen gibt sie ihm einen Geheimauftrag, eine Spähermission hinter den Linien des Feindes. Und damit er eine Chance hat, dies zu überleben, stellt sie ihm eine bewährte Kriegerin und Späherin an die Seite, Iris. Unter Iris Führung haben sich die beiden in der Nähe eines Flusses (der irgendwie an die Wupper erinnert 😉 ) ein Basislager geschaffen, ein erster Spähgang brachte Iris zu der Überzeugung, dass jemand oder etwas namens „Lerri“ wichtige Informationen hat, die sie brauchen. Und da Blasius zwar nicht besonders kämpfen, dafür aber reden kann, zieht er aus, dendiedas Lerri zu finden…
Ach ja: Blasius, Iris und Stella sind, wie viele andere wichtige Figuren – Ratten. Hatte ich das erwähnt? 😉
Beginn Leseprobe:
Es war schon fast wieder dunkel, als Iris ihn weckte.
„Wird Zeit, dass Du Dich auf den Weg machst“, flüsterte sie. „Achte darauf, dass niemand Dich sieht, bis Du auf dem Pfad bist. Und geh den Menschen aus dem Weg. Sie sind offenbar nicht gut auf uns zu sprechen, hier draußen. Meine beiden Freunde heute Morgen lebten in ständiger Sorge, sie könnten von Menschen gesehen werden.“
Blasius schüttelte sich und versuchte, ein wenig frisch zu werden Es misslang kläglich, er fühlte sich, als müsste er noch mindestens zehn Stunden schlafen. Er bemühte sich, seinen Zustand zu verbergen und wenn Iris ihn trotzdem bemerkte, so sagte sie gnädigerweise nichts dazu. Ihre letzten Worte sickerten zurück in sein Bewusstsein.
„Ich dachte, die Menschen wären unsere Freunde.“
„Ja. Aber wie Kamerad Marcellus schon sagte – sie haben viel vergessen.“
Er wandte sich zu ihr um und erschrak. Sie war über und über mit Schlamm und Pflanzenresten beklebt, als hätte sie sich erst am Ufer im Dreck gewälzt und wäre dann in der Vegetation Amok gelaufen. Jetzt roch er es auch. Sie roch stark nach Fluss – als wäre sie ein Teil des Ufers geworden. Nur ihre Augen und ihre Pfoten wiesen sie noch klar als Ratte aus.
„Was ist passiert?“
Sie sah erstaunt um sich. „Wie, passiert?“
„Na ja – Du siehst aus…“
„Wie sehe ich aus?“
„Ähm… irgendwie… wie ein Stück Landschaft.“
„Genau das ist die Absicht, Blasius. Wie die Landschaft aussehen. Nicht wie eine Ratte, die sich in der Landschaft versteckt.“
„Ah.“ Er sah sie immer noch irritiert an. Iris begann zu kichern.
„Was freue ich mich darauf, wenn wir Dich tarnen. Aber jetzt geh erstmal. Finde diesen Lerri und frag ihn aus. Und mach es unauffällig.“
„Was soll ich denn sagen, wenn ich jemanden treffe? Das selbe wie Du? dass ich aus einer anderen Stadt bin, oder so?“
„Besser oder so. Zweimal die selbe Geschichte wirkt irgendwie nicht gut, oder. Man weiß nie, wer zufällig von wem etwas gehört hat.“
„Hmmm… Was soll ich denn dann sagen?“
Sie lachte.
„Bei den Göttern, Blasius, Las Dir was einfallen. Du bist doch der Neffe eines Politikers, oder? Rede sie einfach an die Wand.“
Blasius fand diesen Rat nicht gerade hilfreich, aber er wollte auch nicht noch weiter fragen, also nickte er nur, verabschiedete sich und machte sich auf den Weg.
Es war eine kalte, mondhelle Nacht und Blasius brauchte mehr als eine Stunde, um den Uferstreifen zu verlassen und die Wiese zu überqueren, so ängstlich war er darauf bedacht, sich in den Schatten zu halten um nicht gesehen zu werden. Als er den Weg erreicht hatte, wurde er mutiger. Er überlegte kurz und machte sich dann auf in Richtung Stadt. Dort hatte Iris die Ratten getroffen, die diesen Lerri kannten, dort war die Chance am größten, weitere zu treffen, die ihn kannten.
Er war nicht weit gegangen, als er links von sich Stimmen hörte. Er schlich vorsichtig näher. Wenig vor sich sah er, in einem losen Ring aus Bäumen, ein Haus, sehr klein für menschliche Verhältnisse und dahinter einen mit Kies ausgestreuten Hof. Der Hof wurde begrenzt von einer kleinen Wiese, auf der seltsame Geräte aus Holz und Metall aufgestellt waren, deren Bedeutung Blasius nicht erraten konnte, er vermutete, dass es Kunstwerke waren. Zwischen diesen Kunstwerken hatten die Menschen eine flache, holzeingefasste Sandgrube angelegt. Von dort kamen die Stimmen. Blasius pirschte sich vorsichtig näher an. Er war kein geschickter Schleicher, aber die Aufmerksamkeit der beiden Ratten war völlig von etwas gefangen, dass in der Mitte der Sandgrube lag. Für Blasius sah es aus, wie ein langes Fass, aber es schien weder aus Holz noch aus Stahl oder Stein zu bestehen. Es musste sehr leicht sein, denn die beiden mageren Ratten in der Grube konnten es ohne Mühe hin und her schieben. Sie waren offenbar in heller Aufregung.
„Bier, Bier“, rief der Längere von beiden.
„Bier“, sagte der andere andächtig.
„Welches Bier?“
Der Kleinere lief um das Fass.
„Hansa!“
„Ah! Hansa!“
„Wie viel Hansa?“
Der Lange rappelte am Fass.
„Halbe Dose. Vielleicht mehr. Halbe Dose Hansa!“
„Ah“, machte der Kleine, offensichtlich begeistert. „Das ist gut. Menschen sind so dumm. Lassen ‘ne halbe Dose Hansa da.“
Der Lange lachte laut. „Dumme Menschen, ja. Jetzt ist’s unser Hansa.“
Der Kleine hörte auf, um das Fass herum zu laufen und betrachtete es nachdenklich.
„Zuviel für uns. Zuviel Hansa. Wir müssen die Familie rufen.“
„Nein! Unser Hansa!“
„Denk nach. Denk an Biergift. Wir sterben an Biergift. Oder die Katze holt uns.“
„Katzen holen uns nicht mehr. Die großen Völker haben Frieden geschlossen.“
Der Kleine schnaubte. „Wer’s glaubt. Und selbst wenn’s stimmt. Denk ans Biergift.“
Der Lange wirkte der Verzweiflung nah.
„Unser Hansa“, jammerte er.
Der Kleine betrachtete wieder nachdenklich ihren Fund.
„Wir könnten’s verstecken. Hansa bleibt lange gut.“
„Ja! Ja, wir verstecken’s. Und kommen jeden Abend wieder.“
„Aber der Alte wird‘s merken. Alle werden‘s merken, wenn wir wie Hansa riechen.“
„Wir schwimmen im Fluss. Trinken Flusswasser. Finden eine Schöne und machen Paarung. Rennen viel. Wälzen uns in Fleisch. Jede Nacht was anderes. Riechen dann nicht so nach Hansa.“
„Hm.“
„Oh ja, komm. Wir verstecken’s. Wenn wir die Familie rufen, säuft der Alte unser Hansa weg.“
„Hast recht, ja.“ Der Kleine dachte immer noch nach.
Auch Blasius dachte nach, fieberhaft. Das war die Gelegenheit, es konnte lange dauern, bis er wieder auf Ratten traf. Und die beiden wirkten nicht so, als wären sie sehr erpicht darauf, anderen von ihren Erlebnissen in dieser Nacht zu erzählen. Andererseits war zu befürchten, dass sie in jeder anderen Ratte erstmal einen Konkurrenten um ihre Beute sehen würden, und Blasius hatte keine Lust, sich zu prügeln. Ganz abgesehen davon, dass er darin nicht besonders gut war – er wollte ja mit ihnen reden. Er brauchte eine gute Geschichte und zwar schnell. Jetzt! Jetzt sofort!
Der Geistesblitz kam so plötzlich, dass er regelrecht erschrak. Er sprang aus seinem Versteck, bevor er Angst haben konnte und lief mit einem extrabreiten Grinsen und rollenden Augen auf die Sandgrube zu. Die beiden waren immer noch in Betrachtung ihres Fasses versunken und bemerkten den heranrasenden Blasius nicht, bis er auf die Holzeinfassung sprang und laut rief:
„Hurra! Preiset die Götter, Brüder!“
Die mageren Ratten wirbelten herum und starrten ihn feindselig an. Oh ja, sie fürchteten ganz offensichtlich, er wolle ihnen ihr Hansa streitig machen, was immer Hansa sein mochte. Blasius grinste noch breiter und – wie er hoffte – blöder.
„Friede Brüder! Es ist ein Ros entsprungen! Fürchtet Euch nicht! Hurra!“
„Wer bist Du?“ fragte der Kleine und sah ihn misstrauisch an.
„Was ist entsprungen?“ wollte der Große wissen.
„Sehet, ich bin der Verkünder großer Freude!“ rief Blasius. „Hurra!“
„Was für Freude?“
„Hurra!“
Die beiden sahen sich an. Der Kleine tippte sich vielsagend hinters Ohr.
„Magst Du Bier?“ fragte er.
„Niemals! Bier ist von Dämonen. Biergift, denket an das Biergift. Preiset die Götter. Hurra!“ Blasius hatte keine Ahnung, was Biergift war, aber offenbar waren die beiden jetzt beruhigt.
„Wer bist Du noch mal?“ fragte der Kleine, jetzt etwas freundlicher.
„Und was war das, was entsprungen ist“, wollte der Lange wissen. „Ist es gefährlich?“
„Ich bin der Verkünder! Sagt, wo finde ich den Botschafter?“
„Wen?“
„Den Botschafter Brüder! Hurra! Sagt es mir, und die Götter werden Euch belohnen! Hurra!“
„Was für‘n Botschafter?“
„Lerri! Lerri ist sein Name! Hurra! Er soll die Botschaft der Götter tragen!“
„Ach Lerri“, sagte der Kleine, grinsend nun. „Du suchst Lerri?“
„Hurra! Ja, das ist sein Name!“
„Na, das ist nicht schwer. Du findest ihn am öffentlichen Klo im alten Bunker!“
„Reich wird Dein Lohn sein, Bruder“, jubelte Blasius. „Nun weise mir noch den Weg!“
„Hm. Lauf einfach immer diesen Weg immer weiter, bis zur großen Straße, dann links. Wenn Die Straße aufhört, wieder links. Dann riechstes bald!“
„Hurra!“ rief Blasius und prägte sich die Route angestrengt ein. „Die Götter lieben Euch, Brüder!“
„Was ist entsprungen?“ wollte der Lange wissen.
„Hurra!“ brüllte Blasius, sprang hoch in die Luft, drehte sich um und rannte von dannen. Die Beiden sahen staunend dieser riesigen und offenbar völlig durchgedrehten Ratte nach. „Hüte Dich vor‘m verbrannten Land“, rief der Kleinere Blasius nach.
Blasius rannte, bis er außer Sicht war, dann schlug er sich in ein Gebüsch neben dem Weg und dachte nach. Iris Vermutung, ein Lerri sei ein Held oder ein Weiser, schien nicht zu zu treffen, zumindest hatten die Beiden nicht viel Ehrfurcht gezeigt. Allerdings schienen sie auch nicht besonders helle zu sein – und vor allem sehr ängstlich. Es passte zu dem, was Iris gesagt hatte, die Ratten hier am Fluss schienen in ständiger Angst zu leben. Er fragte sich, was in dem Fass gewesen sein könnte, dass sie so wild darauf gewesen waren. ‚Hansa‘… er würde versuchen, mehr darüber heraus zu bekommen. Jetzt aber musste er erst einmal diesen Lerri finden, was immer sich hinter dem Namen verbarg. Der Weg schien, der Beschreibung nach, nicht sehr kompliziert zu sein. Blasius steckte die Nase aus dem Gebüsch, witterte in die Runde und machte sich wieder auf den Weg.
Stunden später stand die Sonne hoch am Himmel und Blasius Zuversicht war aufgebraucht. Der Weg war tatsächlich nicht sehr kompliziert – dafür aber lang. Sehr, sehr lang und gefährlich. Überall wimmelten Menschen herum, von den rasenden Transportmaschinen gar nicht zu sprechen. Er wühlte sich durch den Müllhaufen, in dem er sich versteckt hatte vorsichtig nach oben und spähte hinaus, zum Himmel. Die Helligkeit war kaum zu ertragen, aber er hatte inzwischen genug über Zeitbestimmung anhand des Sonnenstandes gelernt, um festzustellen, dass es ziemlich genau Mittag sein musste. Er hörte Menschen überall und fluchte. Das hatte er nun davon – er saß fest.
Dabei war es ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte, einer seiner Versuche, clever zu sein hätte ihn fast das Leben gekostet. Als es immer schwieriger geworden war, an der Straße vorwärts zu kommen, hatte Blasius nach einem besseren Weg gesucht – oder, wenn er ehrlich war – einem bequemeren. Und, brillant, brillant, hatte auch bald einen gefunden, auf der Rückseite der Gebäude, die längs der Straße verliefen. Er war über Dächer, durch Gesträuch und leere Höfe gelaufen und kam sich schon sehr, sehr clever vor, als er eine Mauer überstieg und sich plötzlich auf einem riesigen, leeren Platz wieder fand. Im selben Moment schrillte eine Glocke, offensichtlich ein Alarm. Und während Blasius noch, starr vom Schock, vor der Mauer stand, flogen die Türen des großen Gebäudes auf, dass den Platz auf einer Längsseite begrenzte und Menschen strömten heraus, junge Menschen der Größe nach, aber offensichtlich entschlossen, ihr Gebäude zu verteidigen. Das Geschrei, mit dem sie den Platz stürmten, konnte nur Kriegsgeheul sein. Blasius fasste sich und floh in Richtung eines Gebüsches auf der Seite des Platzes, die dem Gebäude gegenüberlag, aber er war entdeckt worden. Aus unzähligen Schreien hörte er das Wort „Ratte!“ manche schienen erschrocken, andere begeistert. Er schlüpfte in das Gebüsch und merkte, dass er in der Falle saß. Es gab keinen Weg hier heraus, zumindest keinen sicheren, jenseits seiner kleinen Zuflucht war nur ein schmales, spärlich bewachsenes Stückchen Erde, vor ihm der Platz, hinter ihm eine Mauer, die er leicht hätte erklettern können – wenn er da nicht allzu leicht sicht- und verwundbar gewesen wäre. Die Stimmen kamen näher.
„Isse da drin?“
„Ja, da isse reingelaufen.“
Der Busch bebte, offenbar schlug jemand dagegen. Ein Gesicht tauchte auf.
„Krass. Ich kann sie sehen.“
Wieder bebte der Busch, heftiger diesmal.
„Ist das wirklich ‘ne Ratte?“
„Ja. Voll riesig.“
„Bäh.“
„He! Was macht Ihr da!“ Eine neue Stimme, noch etwas entfernt. Sie musste einem älteren Menschen gehören. Die jungen Stimmen schienen sich ein Stück vom Busch zurück zu ziehen und Blasius wagte einen Blick durchs Geäst nach draußen um zu sehen, ob er eine Flucht über die Mauer wagen konnte. Das Ergebnis war nicht viel versprechend. Zwar hatten sich die jüngeren Menschen ein paar Meter von seinem Gebüsch entfernt, doch sie beobachteten es immer noch scharf. Hinzu kam nun ein ausgewachsener Mensch, eine Weibliche, wie Blasius vermutete, obwohl er nicht sicher war. Sie war seltsam gekleidet, selbst für einen Menschen, in ein hartes, schwarzes Gewand. Auf dem Kopf trug sie eine schwarze Haube. Offenbar war sie so etwas wie ein Befehlshaber, denn die Jüngeren warteten mit merklichem Respekt.
„Da ist ‘ne Ratte im Gebüsch, Schwester, “ sagte eine von ihnen.
„Eine Ratte? Das ist Quatsch!“ Trotzdem kam die Befehlshaberin näher an das Gebüsch. Sie ließ sich auf die Knie, spähte durchs Blattwerk und prallte zurück, als sie Blasius sah.
„Tatsächlich.“ Sie trat nach Blasius, konnte ihn aber nicht erreichen, weil er sich tiefer in die Büsche zurückzog. Schließlich gab sie es auf.
„Das ist ekelhaft. Ich hole den Hausmeister. Versucht nicht, sie zu fangen. Ratten sind gefährlich.“
‚Das sagt die Richtige‘, dachte Blasius. Er versuchte, noch einmal die Lage zu erkunden, wurde aber von einigen der jüngeren Menschen zurückgetrieben, die sich Stöcke abgebrochen hatten und versuchten, ihn damit zu stechen. Blasius hielt es für klüger, sich zunächst so tief wie möglich zu verkriechen und abzuwarten.
Er musste nicht lange warten. Bald zogen sich die Jüngeren zurück. Blasius wagte sich wieder nach vorne und riskierte einen Blick nach draußen. Was er sah gefiel ihm ganz und gar nicht. Die jungen Menschen hatten sich tatsächlich zurück gezogen, allerdings nicht sehr weit, sie bildeten immer noch einen Halbkreis um sein Gebüsch. Zwischen ihren Beinen konnte Blasius hindurchsehen und der Grund ihres Rückzuges war klar: Die Befehlshaberin kam zurück. Begleitet wurde sie von einem männlichen Menschen der etwas trug, dass stark nach einer Waffe aussah: Einen Knüppel, der an einem Ende eine breite, rechteckige Klinge trug. Blasius brauchte nicht viel Phantasie um sich auszumalen, was der Mensch, offenbar eine Art Vollstrecker, damit vor hatte. Welches Verbrechen er durch die Überschreitung der Mauer begangen hatte war Blasius unklar aber eines war sicher – es stand die Todesstrafe darauf. Er überlegte fieberhaft, welche Möglichkeiten er hatte und kam zu zwei Ergebnissen: Erstens, die einzige Chance bestand in der Flucht und zweitens, er musste jetzt fliehen, da seine Bewacher etwas abgelenkt und Befehlshaberin und Vollstrecker noch nicht nah waren. Er suchte kurz nach der besten Stelle in der Mauer aus Beinen und rannte los.
Der Ausbruch kam völlig überraschend und war deshalb erfolgreich. Blasius raste aus dem Gebüsch heraus auf ein Mädchen ganz am Rande des Halbkreises zu, das, alleine mit der großen Ratte konfrontiert, kreischend zur Seite sprang. Dann allerdings begann die Jagd. Schreiend rannten sie hinter Blasius her, der einen Haken nach dem anderen schlug, allen Versuchen ihn zu umzingeln auswich und dabei vergaß darauf zu achten, wohin er rannte. Endlich glaubte er, alle Verfolger hinter sich gelassen zu haben und sah auf. Was er sah erschreckte ihn fast zu Tode. Direkt vor ihm waren vier Menschen und sahen ihn an. Sie waren groß, größer als seine Verfolger, aber sie schienen jünger zu sein als die Befehlshaberin und der Vollstrecker. Dennoch – auch sie mussten Offiziere sein, denn sie trugen ebenfalls schwarz. Und sie sahen noch grimmiger aus als die Befehlshaberin. Drei waren weiblich. Sie trugen lange Mäntel und spitze Schuhe, eine von ihnen hatte Metallspitzen daran befestigt – tödliche Waffen. Ihre Gesichter waren kalkweiß geschminkt, die Lippen und der Bereich um die Augen aber wieder schwarz angemalt. Die Haare waren ebenfalls pechschwarz. Eine von ihnen hatte ein Halsband mit langen, metallen glänzenden Spitzen. Der vierte war männlich, auch er trug einen schwarzen Mantel, dazu schwere Stiefel von denen Ketten herabhingen. Sein Gesicht war ebenso weiß geschminkt, sein schwarzes Haar stand als hoher, bedrohlicher Kamm auf seinem ansonsten kahlen Schädel. Kein Zweifel – Krieger. Und zwar von der ganz üblen Sorte.
Blasius sah sich gehetzt um, doch es war zu spät. Seine Verfolger kamen näher. Und die Krieger vor ihm hatten sich in Bewegung gesetzt. Kein Raum zur Flucht. In seiner Panik hatte er kaum Zeit, sich über sein nahes Ende Gedanken zu machen, als zu seiner grenzenlosen Verwunderung eine der Kriegerinnen über ihn hinweg stieg, während die anderen drei ihn passierten. Hinter ihm bauten sie sich auf.
„Ey!“ hörte er die kleinste der Kriegerinnen mit einer recht piepsigen, aber nicht minder energischen Stimme rufen. „Lasst gefälligst die Ratte in Ruhe, ihr kleinen Kacker!“
„Nathalie!“ brüllte die Befehlshaberin von weitem. „Was fällt Dir…“
Mehr hörte Blasius nicht. Er erkannte die Chance und versuchte nicht weiter, sie zu verstehen. Er sprintete auf das Tor in der Mauer zu, durch das die Krieger auf den Hof gekommen waren, schlüpfte hindurch, sah einen Müllcontainer auf der anderen Straßenseite, hetzte über die Straße und kletterte hinein, bevor weitere Menschen ihn sehen konnten. Und hier saß er nun.
Und hier saß er dann eben auch noch, als die Sonne die Mittagszeit anzeigte. Draußen wimmelte es von Menschen und nach seinen Erfahrungen auf dem Hof hatte er keine große Lust, es noch einmal mit ihnen zu versuchen. Sie hätten viel vergessen, hieß es immer. Offenbar hatten sie alles vergessen. Verbündete jedenfalls verhielten sich anders. Er hatte sich gerade damit abgefunden, auf die Nacht zu warten, als es über ihm im Müll zu rascheln begann. Er zog sich ein wenig zurück, als der Berg rechts von ihm ins Rutschen geriet und kippte. Er hörte einen erschrockenen Schrei, dann noch mehr Gerumpel und etwas kam von oben zu ihm gerutscht. Blasius sah in das Gesicht einer Katze.
Eine ganze Weile starrten sie sich nur schweigend an, dann sagte Blasius zögernd:
„Friede, Freund!“
„Friede“, sagte der andere, denn er war offensichtlich ein Kater, ebenso vorsichtig.
Sie beäugten sich wieder schweigend. Der Kater sah nicht sehr beeindruckend aus, er war dünn. Und schwarz. Blasius war immer noch nicht sicher, ob das ein gutes oder schlechtes Omen war. Nach seinen Erlebnissen auf dem Hof standen die Chancen eins zu eins.
„Ich bin Colin“, sagte der Kater, „Unteroffizier der Königin Guenevre. Du bist eine Ratte der Unterwelt, oder?“
Blasius atmete auf. Ein Verbündeter. Die Katzen der Königin hatten gemeinsam mit ihnen am Fluss gefochten – sie mochten nicht alle die herzlichsten Gefühle für Ratten haben, aber sie hielten sich an das Bündnis.
„Ja. Ich bin Blasius Sixtus Cassius, Tribun der Expedition.“
„Ah.“ Colin sah sich um. „Und was macht ein – äh – ein Tribun hier im Müll?“
„Ich bin in… in geheimer Mission unterwegs.“
Colin grinste. „Muss ja verdammt geheim sein, wenn sie Dich hierhin führt.“
„Die Menschen haben mich hier rein gejagt. Ich verstecke mich vor ihnen.“
„Das ist grundsätzlich eine gute Idee.“
„Was macht ein Unteroffizier im Müll?“
„Ich habe mir ein Mittagessen gesucht.“
„Hier?“
„Nein. Im Krankenhaus. Sie haben mich erwischt und rausgeworfen und… na ja, hier bin ich dann eben gelandet.“
„Oh.“
„Was ist Deine Mission, Blasiktus? Kann ich Dir helfen?“
„Blasius. Meine Mission ist geheim. Aber… kennst Du ein Lerri?“
„Larry? Die verrückte Scheißhausratte? Klar.“
„Ich muss mit ihm reden.“
„Oh – das wird eine interessante Erfahrung für Dich. Aber worüber kann man mit dem reden?“
„Er hat… Informationen.“
Colin lachte so laut, dass er fast umfiel. „Die hat er sicher, mehr als Dir lieb ist. Der Kerl labert Stuss am Streifen. Aber was könnte davon für Dich wertvoll sein?“
„Weißt Du etwas über das verbrannte Land?“
Colin hörte auf zu lachen und sah ihn nachdenklich an. „Nein“, sagte er langsam. „Nur Gerüchte. Es soll ein Ort am Fluss sein, vor dem alle sich fürchten. Ein Märchen. Was hat Larry damit zu tun? Und warum interessiert es Dich?“
„Es hat mit meiner geheimen Mission zu tun. Und meine Informationen besagen, dass Larry Informationen darüber hat.“
„Larry ist absolut voll mit Informationen“, sagte Colin, mehr zu sich selbst. „Aber Du hast Recht, er redet manchmal vom verbrannten Land. Hat die Sache mit unserem gemeinsamen Kampf zu tun?“
„Sicher.“
Colin nickte nachdenklich. „Okay. Ich bringe Dich zu ihm. Aber jetzt lass uns erstmal sehen, dass wir aus diesem Mülleimer hier rauskommen.“
Er arbeitete sich durch den Abfall nach oben und spähte nach draußen. Als Katze hatte er im Falle einer Entdeckung weit weniger zu befürchten als eine Ratte. Blasius scharrte unruhig mit den Pfoten.
„Siehst Du was?“
„Klar.“
„Und?“
„Wie und?“
„Ja – ist die Luft rein?“
„Nein.“
Colin war offenbar der Meinung, das reiche als Auskunft. Blasius fand das nicht. „Was siehst Du?“
„Na – die Straße eben. Und den Bürgersteig. Und gegenüber die Schule.“
„Was?“
„Die Schule.“
„Eine Schule ist das?“
„Ja.“
„Komische Schule“, murmelte Blasius.
Ende der Leseprobe.
Und morgen: Die Fortsetzung des Finders.
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