Und wieder öffnen wir eine virtuelle Schublade meines virtuellen Schreibtischs. Und wieder kommt zunächst einmal eine…
*********** SPOILERWARNUNG **********
ACHTUNG – DER FOLGENDE TEXT ENTHÄLT SPOILER ZU MEINEM ROMAN “DER WANDERNDE KRIEG – SERGEJ”.
*********** SPOILERWARNUNG ENDE **********
Das heutige Geschichtenfragment unterscheidet sich in zwei wichtigen Punkten von den ersten beiden: Im Gegensatz zu „Die Löwen„, die der Folgeroman zu „Die Träumer“ werden sollen und „Der wandernde Krieg – Erin„, was der zweite Teil der Trilogie um den wandernden Krieg und der Nachfolger von „Der wandernde Krieg – Sergej“ ist, ist die heutige Geschichte die Fortsetzung von gar nichts. Sie spielt im Langenrath Universum, in dem auch „Sergej“, „Erin“ und „Der Ruf“ spielen, wir werden einige bekannte Figuren wiedertreffen (zum Beispiel Hakan und Marco) aber die Geschichte hat weder etwas mit dem Wandernden Krieg zu tun, noch mit dem Buch „Wege und Tore“. Der Arbeitstitel ist:
Königskinder
Außerdem wandet die Geschichte sich an ein anderes Zielpublikum. Wobei ich einschränkend sagen muss, dass ich beim Schreiben nie ein bestimmtes Publikum im Kopf habe, ich schreibe einfach für alle, die es lesen wollen. Aber wenn es stimmt, dass das Zielpublikum meist im Alter des Protagonisten ist, dann ist das eher ein Buch für Jugendliche. Mein Held – Bejamin, genannt „Imp“ ist zwischen 15 und 16, die wichtigsten Nebenfiguren ebenso, mit einer Ausnahme.Wobei sich natürlich ein Problem auftut: Ich bin 42, es ist also ein paar Wochen her, dass ich ein Jugendlicher war. Aber das beunruhigt mich nicht wirklich – einige grundsätzliche Dinge am Heranwachsen ändern sich nie, davon bin ich überzeugt. Und ich kann mich an meine eigene Jugend und daran, wie und was ich damals gedacht und gefühlt habe, noch ziemlich gut erinnern. Das ist eine gute Grundlage. Was den Feinschliff betrifft, so habe ich ein paar Testleser und Testleserinnen im Kopf (die noch nichts von ihrem Glück wissen) die gerade im richtigen Alter sind und mich vor Fehlern aus Ahnungslosigkeit bewahren werden. Und sie werden mich, wo nötig, die richtige Sprache lehren – denn Erwachsene, die versuchen, Jugendsprache zu imitieren, gehören zu den peinlichsten Erscheinungen der Welt.
Ich bezeichne die Geschichte dennoch ungern als „Jugendroman“, weil das klingen würde, als wäre sie für erwachsene Leser uninteressant – was sie hoffentlich nicht ist. Also, wie heißt dieses hübsche neue Wort? Das wird eine „All-Age-Geschichte“, genau. 😉
Worum geht es? Imp lebt, wie das zu Anfang jeder Geschichte so ist, sein ganz normales Leben. Er geht zur Schule, spielt Handball, hängt mit Freunden herum, facebookt, muss damit zurecht kommen, dass sein bester Freund und seine Schwester ein Paar sind und so weiter, und so fort. So weit so normal – abgesehen davon, dass Imp (dessen Spitzname aus einer wenig schmeichelhaften Anspielung auf sein Äußeres erwachsen ist) einige Monate zuvor eher per Unfall herausgefunden hat, dass er unter Wasser atmen kann. Es ist unangenehm und tut weh, aber er kann es. Allerdings behält er es tunlichst für sich, weil er keine Lust hat, als Freak zu gelten – auch er hat X-Men gesehen. 😀 Dann aber verschwindet eine Mitschülerin und Imp muss nach und nach erkennen, dass die grausigen Dinge, die nun in Langenrath beginnen, direkt mit ihm zu tun haben.
Letztlich ist das eine Geschichte um Freundschaft, Liebe, Loyalität und Verrat und, wie so viele All-Age-Geschichten, um Identitätssuche.
Von „Königskinder“ existieren bisher etwa 70 Manuskriptseiten. Heute ausnahmsweise mal zwei Kapitel als Leseprobe – wir begleiten Imp und Svey (= Svenja) auf der Suche nach besagter verschwundener Mitschülerin, Ina. Und dann, weil ich eben doch Vater bin und nicht mehr Kind, gönne ich uns noch einen kurzen Besuch bei Inas Mutter:
Beginn Leseprobe:
4
Das „Cuba Libre“ war schon ein eher verzweifelter Versuch gewesen, und auch hier war sie natürlich nicht. Als wir raus gingen, schmiss Svey die Tür hinter sich zu, als habe die Bar sie persönlich beleidigt.
„Scheiße.“
Sie ging schnellen Schrittes an mir vorbei, blieb unter einer Straßenlaterne stehen, trat dagegen und versank dann in Grübeln. Ich hielt mich ein paar Meter abseits und betrachtete sie, nicht zum ersten Mal an diesem Abend. Sie hatte sich so ungeheuer verändert, äußerlich zumindest, und ich fragte mich, wieso mir das nicht schon lange aufgefallen war. Wir sahen uns praktisch jeden Tag. War sie mir wirklich so egal geworden? Nur weil die beste Freundin meiner Schwester mit ihrem Typen Schluss gemacht hatte und wir danach in verschiedenen Hälften unseres zerplatzten Freundeskreises gesessen hatten? Ich konnte mich an keinen Streit erinnern, den ich je mit Svey gehabt hätte. Aber wenn ich an sie dachte, sah ich immer noch ein Mädchen mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen, ein ganzes Stück kleiner als ich – und ich war schon kein Riese – meist mit einem bunten Pullover oder T-Shirt und einer Jeans bekleidet. Das Mädchen, mit dem ich nun seit fast drei Stunden nach Ina suchte, war zweifelsohne Svey – schließlich SAH ich sie ja jeden verdammten Tag – aber sie war natürlich nicht mehr blond. Ich hätte das wissen müssen, schließlich sah ich sie jeden … na, wie auch immer. Sie hatte teerschwarzes Haar, straff zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, der Pony endete wenige Millimeter über den Augen. Die waren immer noch blau. Sie war inzwischen fast auf meiner Größe, der schwarze Hoody, den sie unter der Jeansjacke trug, wies sie als „P.O.R.K. – official Piglet“ aus, was immer das bedeuten mochte. Jeans trug sie immer noch, allerdings jetzt nicht mehr von einem Tuch, sondern von einem breiten Ledergürtel gehalten, dessen Schnalle eine Spinne darstellte, und der sehr gut zu ihren Springerstiefeln passte. Was wusste ich eigentlich noch über Svey, und warum zum Teufel hatte sie mich die ganze Zeit so wenig interessiert?
Es begann wieder zu regnen. Ich konnte nicht anders, ich musste grinsen. Sie sah es.
„Das ist nicht lustig, Imp.“
„Ich weiß. Aber der Regen … es passt.“
„Ja.“ Sie zog die Kapuze über. Eine Möglichkeit, die ich nicht hatte. Ich stellte mich neben sie und betrachtete die Regentropfen im Licht der Laterne.
„Hast Du noch eine Idee?“
Sie seufzte. „Massenhaft. Wir sind wieder in Langenrath. Außer Opladen und unserem Kaff haben wir noch nichts gesehen. Wenn wir nicht ausgerechnet Ina suchen würden, würde ich vorschlagen, wir fahren nach Köln. Da hätten wir die ganze Nacht zu tun.“
„Kann es nicht sein, dass sie sich auch verändert hat? Ich meine …“
„Wieso auch?“
„Na ja …“
Sie bemerkte meinen Blick und lachte laut. „Ach so. Ja, stimmt. Aber das wäre uns doch aufgefallen. Wir sehen sie schließlich jeden Tag.“
„Svey… ich weiß nicht. Was ist Pork?
„Hm?
„Pork – official Piglet.“
„Ach das.” Sie lachte wieder. „Das hat mit meiner Band zu tun und den Leuten, die ich darüber kenne. Das ist nicht Inas Welt. Du kennst doch Ina. Ab ins Schwimmbad und früh nach Hause.“
„Ich weiß es wirklich nicht mehr, ehrlich. Ich habe … ich meine … ich habe zwar mit Ina auch nach … nach Steffi und Alex und allem noch Kontakt gehabt, aber nur … ich meine … ich denke …“ Ich merkte, dass ich stammelte, und hielt lieber den Mund. Sie hatte mich aber verstanden und war freundlich genug, sich nicht doof zu stellen.
„Schon klar.“ Sie verzog den Mund kurz zu einem bitteren Lächeln, das ich nicht verstand. „Aber ich weiß eigentlich auch nicht mehr viel über sie, Imp.“
„Du bist ihre beste Freundin.“
„Ja? Ich weiß nicht … ich glaube, nicht mehr. Nein.“ Sie sah traurig aus. „Seit damals sind eine Menge Freundschaften den Bach runter gegangen. Und heute Abend … im Grunde haben wir doch nur im Dunkeln rumgestochert, oder? Wir wissen … oder wie glauben zu wissen, dass Ina nicht der Typ ist, der sein Wochenende in Köln oder irgendwo sonst startet, wo wirklich was los ist, also haben wir Opladen und Langenrath abgeklappert. Aber mal ehrlich – ins „Cuba Libre“ passt sie auch nicht. Zumindest nicht die Ina, an die wir denken. Mit der saß ich freitags abends zu Hause, habe Tee getrunken, geredet, Musik gehört, DVDs geguckt, gechattet … Ich weiß genau so wenig wie Du, wo ich sie suchen soll. Ich habe keine Ahnung.“
Ich dachte angestrengt nach. Irgendwo in meinem Hinterkopf lauerte eine Idee, etwas, das sie früher am Abend gesagt hatte, als wir noch bei ihr zu Hause waren. Etwas sehr Wichtiges. Nur ein bisschen Konzentration.
„Ich glaube, das bringt nichts.“, sagte Svey. „Wir sollten …“
„Nein, warte.“ Ich hatte die Idee erwischt und zerrte sie ins Licht. „Was ist mit Deinen Träumen.“
„Wie? Was meinst…“
„Du hast von ihr geträumt. Und von mir. Wo waren wir da?“
„Ihr wart nicht zusammen. Du …“
„Nein, sie. Wo war Ina.“
Svey schauderte. „Das kann ich nicht genau sagen, Imp. Es war ein … ein schlimmer Ort. Dunkel, dreckig. Kalt. Und irgendwie … verkehrt … als würde alles im falschen Winkel stehen. Oder …“ sie kniff die Augen zusammen, um das Bild vor ihrem inneren Auge besser zu erkennen. „… oder auf dem Kopf? Keine Ahnung … ein Traum-Ort, Imp. Nicht wirklich …“
„War sie die ganze Zeit da? An diesem Traum-Ort?“
„Wirklich, ich will das nicht genau …“
„Bitte, Svey.“
Sie zog hörbar die Luft ein. „Ja. Und alles war völlig wirr. Da waren nicht nur Möbel, die schief im Nichts hingen, und Dreck und Trümmer, da waren auch Schachfiguren. Riesige Schachfiguren, die auf dem Boden lagen …“
„Sie spielt Schach, oder?“
„Ja. Ich auch, wir spielen oft gegeneinander. Haben oft gegeneinander gespielt. Ich sage ja, das war kein echter Ort, das war irgend so ein Traummix. Und … warte mal.“ Sie klatschte in die Hände. Bemerkenswert kleine Hände. Das war noch wie früher, klar. Und wenn sie so angestrengt nachdachte, dann sah sie dem Mädchen von früher doch wieder ganz ähnlich, dem Mädchen, mit dem ich mal Nudeln gekocht hatte, dem Mädchen …
„Das Schwimmbad!“
„Welches Schwimmbad? Das Waldbad?“
„Ja. Nein. Also nicht das Freibad. Das Hallenbad. Ich habe ein oder zweimal das Hallenbad gesehen, im Traum. Aber das kann auch nur wieder irgend so ein Bild sein. Ein Symbol. Wie die Schachfiguren.“
„Wir könnten nachsehen. Weit ist es nicht. Hat sie heute trainiert?“
„Ja. Frau Balten hat gesagt, sie ist vom Training nicht zurückgekommen.“
„Aber beim Training war sie?“
„Was weiß ich? Wird sie wohl. Frau Balten hat doch sicher mit den Trainern gesprochen. Du hast recht, lass uns nachsehen.“
„Vielleicht ist die Polizei schon da.“
Svey lachte unfroh. „Weil eine 16jährige am Freitagabend nicht um sechs zu Hause ist? Ganz sicher.“
„Okay, dann los.“
Kurz bevor wir das Schwimmbad erreichten, fiel mir plötzlich etwas sehr Beunruhigendes ein. Ich hielt an.
„Svey…“
„Ja?“
„Dir ist schon klar … Wenn wir sie jetzt wirklich finden, hier, dann ist sie … also dann ist sie wahrscheinlich …“
Sie sah mich aus großen Augen an. Die Erkenntnis, die mir eben gekommen war, dämmert auch ihr. Wir standen eine Weile einfach so da, im Nieselregen, und starrten uns an.
„Vielleicht finden wir sie ja nicht,“ sagte ich schließlich lahm.
„Wir wollen sie aber doch finden, oder?“
„Wollen wir?“
„Wenn sie …“ Svey atmete, tief durch, „… wenn sie da ist, ja. Vielleicht finden wir aber auch nur irgendetwas.“
„Was … wie … meinst Du …“
„Nein, nein.“ Sie verstand, was ich meinte und wurde kurz sehr blass. „Nein, ich dachte, irgendetwas, was ihr gehört. Eine Uhr oder ihr Fahrrad oder … mein Gott.“ Sie schlug die Hand vor den Mund. Auch mir wurde die Realität dessen, was wir hier taten, immer grauenhafter klar. In Kneipen und Discos nach Ina zu suchen war eine Sache. Hier, beim dunklen Schwimmbad, nach etwas VON Ina zu suchen, das war schrecklich. Aber wir hatten es angefangen, oder? Svey schien zu demselben Ergebnis zu kommen.
„Aber ich kann jetzt nicht zurück, Imp. Wenn … also … falls ihr was passiert ist, und wir finden etwas, das ihr helfen kann … wir müssen jetzt einfach suchen, oder?“
„Ja, ich denke schon.“
Wir teilten uns vor dem Hallenbad auf, sie ging links herum, ich rechts. Ich suchte den Eingangsbereich sehr genau ab, die Beete und Fahrradständer, die Treppe, die zum Café führte, dann den Weg nach hinten, zum zweiten Eingang und die Gebüsche, die ihn säumten, Nichts. Ich fand nicht einmal etwas, das vielleicht Ina oder vielleicht auch einem anderen Mädchen gehörte, eine Haarspange oder etwas Ähnliches. Hinter dem Gebäude, beim zweiten Eingang, traf ich wieder auf Svey.
„Und?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nichts. Und bei Dir?“
„Auch nichts. Aber schau mal.“ Sie öffnete die rechte Hand, in der sie zwei Knoblauchzwiebeln hielt. „Die lagen im Gebüsch.“
„Und? Mag Ina besonders gerne Knoblauch?“
„Nein. Aber das ist komisch. Guck mal.“
Sie hielt eine der Zwiebeln hoch und ich sah, dass sie von den Seiten aus einmal ganz durchbohrt war. Die anderen genauso.
„Da waren noch mehr davon. Und da war das hier.“
Sie griff in die Tasche und zog ein Stück Schnur hervor. „Darauf waren sie aufgefädelt.“
„Bitte?“ Ich verstand nicht sofort.
„Ein Ring aus Knoblauchzwiebeln. Komisch, oder?“
„Ja …“
Wir hatten beide denselben Gedanken, schauten uns einen Moment an und mussten lachen. Dann lachten wir lauter, und das war vor allem die Erleichterung darüber, dass wir nichts gefunden hatten. Nichts von Ina, sie blieb völlig verschwunden, und für einen Moment war uns das auch lieber.
„Und jetzt?“ fragte ich schließlich.
„Lass uns noch hinten auf dem Parkplatz vom Freibad gucken. Da schließt sie manchmal ihr Rad an, wenn sie nach dem Schwimmen noch läuft. Und dann ab nach Hause. Ich habe genug für heute. Und Du bist schon wieder ganz nass.“
Ich zögerte einen Moment – wie fragt man so etwas? Schließlich entschied ich mich für Beiläufigkeit.
„Bekomme ich noch ein Handtuch?“
„Klar.“
Für einen Moment wollte ich fragen, ob wir uns etwas kochen sollten. Nudeln vielleicht. Aber das ließ ich lieber. Jedenfalls gefiel mir der Abend inzwischen sehr. Und wir hatten nichts gefunden. Gottlob.
„Ich nehme die linke Seite vom Parkplatz und den Eingang vom Freibad, Du die rechte und das Gebüsch auf der anderen Seite, okay?“
Sie nickte und wir teilten uns wieder auf. Ich versuchte, in der Dunkelheit irgendetwas auf meiner Seite des Parkplatzes zu erkennen, während sie sich auf der Frontseite hinhockte und die Büsche auseinanderbog. Ich war kaum zehn Schritte weit gegangen, als sie mich rief.
„Imp! Komm doch bitte mal her!“ Seltsam steif und tonlos. Ich trabte zu ihr herüber. Sie richtete sich auf und sah mich mit sehr großen Augen an. Ihr Gesicht war sehr blass. Ihre Lippen sehr weiß. Auf ihrer Handfläche lag ein kleines, silbernes Kreuz. Ein Kettenanhänger.
„Das gehört Ina.“
Ich starrte den Anhänger an. Für mich sah er aus wie zehntausend andere auch.
„Sicher?“
Sie drehte ihn um und hielt ihn mir direkt vor die Augen. Über den langen Balken des Kreuzes lief eine Gravur: „I. B. ((Datum))
„I.B. … Ina … was ist das für ein Datum?“
„Unsere Kommunion.“
„Das ist ganz sicher ihrer?“
„Ja.“
Ich fühlte mich betäubt. Was war das? Inas Anhänger … stimmt … den hatte sie immer getragen, jetzt erinnerte ich mich auch. Immer. Wann immer man ihren Hals sehen konnte, war auch die Kette zu sehen gewesen, und im Sommer der Anhänger, immer, und jetzt … Was bedeutete das? Wenn man weiter dachte, dann konnte das bedeuten …
„Svey…“
Sie nickte und schaute den Anhänger an, als wolle sie ihn hypnotisieren. Sehr grimmig. Sehr entschlossen schien sie.
„Ich habe Angst, Imp.“
„Ja. Ich auch. Wir müssen zur Polizei, oder?“
„Nein. Zu ihren Eltern. Jetzt!“
„Ja. Gut.“
5
Das waren gute Kinder. Gute Kinder, dachte Susanne Balten immer noch, als die beiden schon lange wieder fort waren. Sie kannte sie beide. Svenja, natürlich, die war schon im Kindergarten Inas Freundin gewesen. Es gab eine Zeit, da hatte Svenja fast bei ihnen gewohnt, die plappernde, pummelige, immer fröhliche kleine Svenja, die ihre stille, in sich gekehrte Ina aufgeheitert und mitgerissen hatte. Ein guter Einfluss auf ihr manchmal viel zu ruhiges Kind. Und Benjamin, dieser auf so seltsam konsequente Weise hässliche Junge, der mit den anderen Freunden vom Gymnasium gekommen war und irgendwann begonnen hatte, Ina auf eine Weise anzusehen, von der er wohl glaubte, dass sie niemand bemerke, die aber nur allzu offensichtlich war. Und dann, vor ein paar Monaten, war etwas geschehen. Etwas mit Inas Freunden. Ina war wieder stiller geworden. Svenja hatte sich verändert, sehr verändert und auf eine Weise, die Susanne Balten nicht gefiel. Das Mädchen zog sich anders an als früher, gab sich viel mit älteren Jugendlichen und Erwachsenen ab und war in einer Band, von der Susanne nur ein einziges Lied kannte. Ina hatte es ihr vorgespielt. Mehr hatte sie nicht hören wollen. Svenja kam immer noch von Zeit zu Zeit vorbei, meist um Schach mit Ina zu spielen, und die Mädchen schienen sich immer noch gut zu verstehen. Aber sie lachten nicht mehr so viel und so laut wie früher. Benjamins seltene Besuche hörten ganz auf und auch seine Schwester, Sarah, kam nicht mehr. Sie kannte das – irgendwann ordneten sich die Freundschaften neu, aber es schien ihr zu früh. Und Veränderung hin oder her – sie mochte Svenja.
Und so war Svenja auch die erste gewesen, an die sie gedacht hatte, als Ina nicht vom Schwimmtraining nach Hause gekommen war. Georg, ihr Mann, war in Hamburg, auf irgendeiner Messe, und er sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen. Nelly, Inas Trainerin, bestätigte ihr, dass Ina beim Training gewesen war, und sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen. Die Polizei wimmelte sie ab, sehr freundlich, aber abgewimmelt war abgewimmelt, und der Beamte sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen. Aber sie hatte hier gesessen, alleine, zu Hause, hatte auf ihr einziges Kind gewartet und sich gesorgt. Sie hatte Inas Handy angerufen, und in Inas Zimmer hatte es geklingelt. Sicher. Ina nahm es nie mit zum Training. Im Schwimmbad wurde viel geklaut. Sie hatte überlegt, ob sie zum Schwimmbad fahren sollte, um Ina zu suchen, oder in die Stadt, aber sie wollte weder sich noch das Kind blamieren. Ina war 16, war es nicht richtig, dass sie einmal etwas auf eigene Faust unternahm? Sie würde zu Hause bleiben, Ina würde zurückkommen, sich entschuldigen, dass sie nicht Bescheid gesagt hatte, und dann würden sie beide darüber lachen. Aber warum dauerte das so lange?
Und dann hatte sie Svenja angerufen. Einfach nur, um etwas zu tun. Svenja hatte ihr nicht helfen können. Aber immerhin hatte sie nicht gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen.
Es war Nacht geworden, und die Stille hatte begonnen, sie wahnsinnig zu machen. Jetzt wollte sie doch losfahren und suchen, aber wo? Und sollte sie nicht hier sein, falls Ina doch nach Hause kam. WENN sie nach hause kam? Susanne Balten hatte fern gesehen, ohne wahrzunehmen, was da lief. Sie hatte Falten in die Kleidung gebügelt. Sie hatte Georg angerufen, wieder und wieder, aber er hatte das Handy abgeschaltet. Kundenveranstaltung nach der Messe. Wichtige Gespräche.
Und dann, fast um Mitternacht, hatte es an der Tür geklingelt. Angst und Hoffnung hatten sie im Bruchteil einer Sekunde dermaßen überwältigt, dass sie sich fast auf den Wohnzimmerteppich übergeben hätte. Sie hatte sich gefasst und war zur Tür gelaufen. „Ina, Ina, Ina, oh bitte, Ina, Ina, Ina …“
Aber es war nicht Ina gewesen. Draußen hatten Svenja und Benjamin gestanden, beide vom Regen durchnässt, und Svenja hatte ihr das Kreuz gegeben. Inas Anhänger. Sie sagte, sie hätten es am Parkplatz vom Freibad gefunden. Und Susanne wurde schlagartig klar, dass die beiden in Dunkelheit und Regen nach Ina gesucht hatten, so wie sie aussahen den ganzen Abend. Gute Kinder. Dennoch brachte sie es nicht über sich, sie herein zu bitten. Sie hatten den Anhänger am Schwimmbad gefunden. Oh nein! Oh nein! Nein! Nein! Nein!
Svenja hatte gesagt, dass sie noch eine Weile bei ihr zu erreichen wären. Benjamin hatte ihr seine Telefonnummer aufgeschrieben. Dann waren sie gegangen.
Susanne war weinend hinter der Tür zusammengebrochen, das Kreuz und den Zettel mit der Telefonnummer fest umklammernd.
Gute Kinder.
Gute, gute Kinder.
Ende der Leseprobe.
Morgen wenden wir uns dann meinem Urban-Fantay Epos zu: Der Sänger und der Puppenspieler. Bis dann!
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