Als ich mich zum ersten Mal ernsthaft mit der Frage nach der Herkunft meiner Figuren beschäftigt habe, da war ich schon seit einigen Jahren Schriftsteller. Oder zumindest hatte ich schon einige Kurzgeschichten (gut) und die ersten beiden Teile einer Romantrilogie (schlecht) geschrieben – ich war 17 Jahre alt und eine ambitionierte junge Lehrerin machte meinen Literaturkurs und mich mit Luigi Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ bekannt. Zur Aufführung des Stückes durch besagten Literaturkurs ist es nie gekommen. Wir waren alsSchauspielerinnen und Schauspieler einfach zu untalentiert und faul, als das man hätte zulassen können, dass wir dieses Meisterwerk verwursten, das hat besagte Lehrerin dann auch rechtzeitig eingesehen. Aber meine Faszination für das Stück blieb und vor allem für die Frage, die es mir als Autor stellte – wo kommen meine Figuren her?
Ich habe zu einer ähnlichen Frage hier schon geschrieben. Es ist nicht so, wie manche sich das vorzustellen scheinen – ich denke sie mir nicht aus. Sie sind einfach da. Besonders deutlich macht dies meine Begegnung mit Annabell – einer wichtigen Figur in meinem kommenden Roman „Nomaden“.
Annabell stellte sich mir zu einem Zeitpunkt vor, an dem ich eine Lösung für ein Problem in meiner Figurenkonstellation suchte, die zu einem Plotproblem zu werden drohte. Ohne groß zu spoilern: Zu Beginn der Handlung geht meine Hauptfigur eine Beziehung zu einer Frau ein, die zu einer herkömmlichen Liebesbeziehung hätte werden können, und eine Weile dachte ich auch, dass es eine wird. Dann aber wurde mir klar, dass diese Beziehung eine andere ist, fast tiefer einerseits, weniger eindeutig andererseits. Hört sich das nach kryptischem Geschwurbel an? Mag sein, aber ich will, wie gesagt, nicht spoilern. Das Blöde war nur – diese neue und NOTWENDIGE Entwicklung drohte, mir das wenige, was ich vom Ende meines Plots bis dahin ahnte total zu zerhauen.
Und plötzlich war Annabell da. Sie war die Lösung all meiner Probleme, das Kontergewicht, das mir in der Konstellation gefehlt hatte, ohne, dass es mir klar gewesen wäre. Ich habe sie mir nicht „ausgedacht“, mir war nicht einmal klar, wie die Lösung aussehen musste (so simpel sie im Nachhinein scheint), bis sie erschien.
Wenn ich sage, dass ich sie mir nicht ausgedacht habe, so spreche ich dabei nicht nur von der Figur in ihrer Funktion für die Geschichte. Ich meine wirklich die Person Annabell: Sie ist 36 Jahre alt, Ärztin, in Bergisch Gladbach aufgewachsene Tochter sudanesischer Eltern. Eigentlich heißt sie auch gar nicht Annabell, aber das ist nebensächlich, alle nennen sie so, seid ihrer Kindheit. Sie hat bestimmte Eigenschaften, ist humorvoll, aufgeschlossen und arbeitet gut unter Druck, ist andererseits manchmal etwas naiv und sehr scheu in Gefühlsdingen. Sie kann pokern. All das brachte sie mit. Hätte ich sie verbogen, hätte ich aus ihr eine 25jährige Tochter österreichischer Eltern gemacht, eine männdermordende Draufgängerin die aber in Stresssituationen gerne mal zusammenklappt, dann hätte sie als Figur viel schlechter funktioniert. Vor allem hätte ich sie nicht automatisch schreiben können, sondern hätte mich in jeder Situation fragen müssen: „Wie würde Annabell jetzt handeln?“ Da ich sie nicht verändert habe, musste ich das nicht – ich habe sie einfach in meine Geschichte gelassen, und sie hat sich so verhalten, wie sie es eben tut – meine Testleser fanden sie offenbar konstant und stimmig.
Ich bin schon gefragt worden, warum Recha aus „Der wandernde Krieg – Sergej“ Jüdin ist. Interessanterweise wurde ich noch nie gefragt, warum zum Beispiel Esther aus dem „Finder“ Christin ist, Erin aus „Sergej“ blond oder Cloe aus den „Träumern“ pummelig, aber das nur am Rande. Die Antwort lautet schlicht: Weil sie es eben ist. Recha kam aus dieser Wartehalle für Figuren, die sich irgendwo in meinem Kopf befinden muss, übernahm als Journalistin freundlicherweise die Rolle der Beobachterin und Chronistin in „Sergej“ und machte ihren Job sehr gut. Warum in aller Welt, hätte ich eine Katholikin oder Atheistin aus ihr machen sollen, wo sie nunmal Jüdin ist? Es liegt keine Botschaft in ihrer Religionszugehörigkeit, ebensowenig wie in Annabells Hautfarbe oder Chloes Figur. Sie ist, wie sie ist.
Natürlich ist das nicht alles völlig zufällig. Ich forme an meinen Figuren, die Geschichte formt noch mehr. Annabell erfüllt nicht nur eine Funktion in meiner Figurenkonstellation – es ist auch sehr nützlich, dass sie Ärztin ist. Recha ist passenderweise Journalistin, Erin eine erfahrene Nahkämpferin und Ethnologin – oder Daniel aus dem „Finder“ Photograph, all das passt zur Geschichte, und ich wollte sie so haben. Vielleicht hängen in der Wartehalle Stellenausschreibungen. 😀 Aber Chloe – oder die Rolle, die sie dann eingenommen hat – war zum Beispiel ursprünglich eine Diebin. Aus der Wartehalle kam aber keine Diebin, sondern eine Killerin. Und es stellte sich heraus, dass sie für die Geschichte viel nützlicher war, als sie es als Diebin gewesen wäre.
Der große Respekt, den ich vor meinen Figuren habe und die Tatsache, dass ich sie nicht einfach verbiege, auch wenn das hier und da der leichtere Weg zu sein scheint, kommt unter anderem daher: Ich erschaffe sie nicht, zumindest nicht bewußt. Sie bieten sich an – und warum sie das tun weiß ich nicht. Denn der Job einer Figur in meiner Geschichte ist nicht immer schön. Das hat auch Annabell leider feststellen müssen. Respekt ist das Mindeste, das ich ihnen dafür schulde.
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