Geschichtenzeit, liebe Freundinnen und Freunde, kommt ans Feuer, lasst Euch erzählen. Die Kinder bleiben diesmal bitte wieder bei Sarah, ebenso alle Leute, die ein Probleme mit erzählter Gewalt gegen Tiere haben. Ich bin selber zum Beispiel ein großer Katzenfreund und mag auch ein paar mir persönlich bekannte Hunde, aber ich kann ganz gut abstrahieren, wenn ich eine Geschichte höre. Wem das schwer fällt, der betrachte dies bitte als Triggerwarnung.
Vor ein paar Tagen habe ich erzählt, dass ich ein großes Problem mit Geschichten über Serienmörder habe. Das ist wirklich so. Ich habe selbst ein paar geschrieben, man könnte sogar „Der wandernde Krieg – Sergej“ so verstehen (was meiner Meinung nach ein Missverständnis wäre, aber ich wehre mich, mit einigen politischen Ausnahmen, prinzipiell nicht gegen Interpretationen meiner Geschichten). Heute würde ich keine Serienkillergeschichten mehr schreiben. Das hat zwei Gründe – zum einen war ich mal in der Jury für einen wichtigen Krimipreis, und habe in der Zeit einfach zu viele Serienkillerplots gelesen. Versteht mich nicht falsch – da war echt Gutes dabei, aber es waren insgesamt einfach zu viele. Zum anderen habe ich mich recherchierenderweise selbst eine Weile mit dem Thema beschäftigt. Und es ist eben so, dass Serienmörder in aller Regel keine faszinierend-abgründigen Persönlichkeiten voller dunkler Geheimnisse sind. In der Regel handelt es sich um eher stumpfe, empathielose Gestalten. Die Opfer, die das Pech hatten, ihnen zu begegnen, sind interessantere, wertvollere Menschen, deren Leben durch einen sinnlosen Akt der Gewalt viel zu früh beendet wurde.
Nachdem ich all das gesagt habe – präsentiere ich Euch heute die Geschichte eines Mehrfachmörders (ich bin nicht sicher, ob das eine Serie ist), die ich guten Gewissens veröffentlichen kann, weil sie genau das zeigt. Ich habe sie mal für einen Wettbewerb geschrieben, nie veröffentlicht und heute nach einiger Zeit noch einmal gelesen – und eigentlich sind die Opfer, die hier nur mit wenigen Worten skizziert sind, viel interessanter als der Typ, in dessen Kopf wir uns befinden. Finde ich jedenfalls.
Wieder unter der Lizenz Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0)*!
Warum der See dunkel ist
von Michael Schreckenberg
Gestern Nachmittag bin ich in Köln losgefahren. Ich war seit Tagen traurig und nichts was ich getan hatte, hatte etwas daran ändern können. Alle Namen auf der Liste waren ausgestrichen, alle bis auf zwei. Ich hatte Kopfschmerzen und ich weinte, als ich losfuhr. Schon hinter Dortmund waren die Tränen getrocknet. Zwischen Bremen und Hamburg verschwanden die Kopfschmerzen. Hamburg war die letzte Prüfung, aber ich kenne diese wirre Kombination aus Autobahnen und missverständlichen Wegweisern gut genug, und die Traurigkeit wich mit jedem Kilometer, den ich weiter nach Norden kam. Kaum hatte ich Hamburg verlassen, fand ich Radio Nora, das Beste aus den 70ern und 80ern. Die Landschaft öffnete sich, hin und wieder begrenzten lichte Wälder die Autobahn. Ich passierte Lübeck und Eutin. Ich musste an den See denken, den dunklen See im Wald, unterhalb des Hotels. Gute Erinnerungen. Auf die Fehmarnsund-Brücke fuhr ich am Abend, noch bevor die Sonne unterging. Ich spürte den Wind und war jetzt ganz leicht, fast fröhlich, trotz meiner Wut. Hier war alles gut.
Hier hat es begonnen. Hier endet es. Im Norden.
Ich bin in Lübeck geboren, in den 1970ern. Das war ein Zufall. Meine Eltern waren im Urlaub, in Dänemark. Nissumfjord, das letzte Mal gemeinsam die Freiheit genießen, vor dem Kind. Aber die Freiheit habe ich mir dann genommen und sie sind Hals über Kopf los, weil sie mich zu Hause bekommen wollten, in Köln, wo alles vorbereitet war. Bis Lübeck sind sie gekommen. Meine Geburt war, so wurde mir berichtet, ganz problemfrei, trotz der überstürzten Abreise und der halsbrecherischen Fahrt und dem lahmarschigen Grenzer und allem. Es war eine gute Geburt, und schon am nächsten Wochenende fuhren meine Eltern nach Köln weiter, mit mir auf dem Rücksitz, in so einer rechteckigen blauen Babytrage, Maxicosys lagen noch weit in der Zukunft. Ich habe es trotzdem überlebt und wuchs dann in Köln auf. Das war nicht so gut. Aber der Anfang, im Norden, der war gut.
Jetzt bin ich wieder hier, in Mölln. Vom Balkon meines Hotelzimmers aus kann ich den Schmalsee sehen. Er ist dunkel, obwohl der blaue Himmel sich darin spiegelt. Seltsam. Das Hotel kenne ich gut, von früher, als ich noch in der Agentur gearbeitet habe. Die Parkettfabrik hier war einer unserer Kunden, und immer, wenn ich dort einen Termin hatte, habe ich in dem Hotel im Wald gewohnt. Das war eine gute Zeit.
Es ist wie damals – ich habe für den normalen Preis eines der luxuriöseren Zimmer bekommen, mit eigener Küche und Balkon. Die Küche brauche ich diesmal nicht, so lange werde ich nicht bleiben. Aber es ist gut, dass ich wieder so ein Zimmer habe. Ja, das ist gut. Es ist Frühling, aber der See ist dunkel. Wie auch der Wald an seinen Ufern. Das ist ein Geheimnis, und ich habe das Gefühl, dass ich es noch ergründen sollte, vor dem Ende. Die Bäume sind grün und der Himmel leuchtet blau – warum nur ist der See so dunkel. Ich denke, ich werde gleich zum See hinuntergehen. Es ist gut, dass es dort enden wird.
Zu Hause bin ich oft traurig gewesen. Das war das Problem, schon in der Schule. Wenn ich wirklich traurig bin, dann kann es sein, dass ich so verzweifelt werde, dass es irgendwie raus muss. Dann habe ich Lehrer beleidigt und andere Kinder verprügelt, einmal auch mal umgekehrt. Der war alt, der konnte sich nicht gut wehren, und ich war so schrecklich wütend. Ich war schon ein schwieriges Kind.
Hier oben war ich nie traurig. Wir haben Familienurlaube in Schleswig-Holstein gemacht, Camping zuerst, später Bauernhöfe und Ferienwohnungen. Das war immer gut. Ich war nicht traurig und nicht wütend. Die Menschen sind hier geduldiger, sie reden weniger. Die alten Leute und die Bauern konnte ich manchmal nicht verstehen, aber selbst das war besser als die alten Leute in Köln, die ich auch nicht verstehen konnte. Hier klang es schöner, fast wie Musik. Hier kann man weiter schauen, hier ist der Wind besser. Und dann natürlich das Meer. Selbst in den Wäldern kann man das Meer spüren. Wenn ich doch das Gefühl hatte, dass ich traurig werde, dann musste ich nur auf eines dieser weiten Felder gehen oder ans Meer, und die Traurigkeit war fort und die Wut kam nicht wieder. Den See kannte ich damals noch nicht, aber bei ihm ist es ebenso. Er ist einfach da, wie das Meer und die Felder, ruhig und gleichgültig, er löscht alles aus und gibt mir Ruhe. Ich glaube, das kommt daher, dass ich hier geboren bin. Ich gehöre nicht ins Rheinland. Das war alles falsch.
Ich habe gelernt, mit meiner Wut umzugehen. Das war gar nicht so schwer, als ich es einmal raus hatte. Zuerst kam ja die Traurigkeit. Wenn ich auf diese besondere Weise traurig war, dann wusste ich, dass ich bald wütend werden würde. Dann suchte ich mir normalerweise eine Katze, einmal auch einen kleinen Hund, der in unserem Viertel herum streunte. Das war nicht gut, ich weiß das. Aber besser so ein Tier als ein richtiger Mensch, oder?
Was die Menschen anbetraf, so hatte ich meine Liste. Immer wenn ich wütend war, dann schrieb ich in die Liste, auf wen ich wütend war. Es gab Punkte, Wutpunkte, von eins bis zehn. Ein Junge aus meiner Klasse, Christoph, schaffte es auf 87 Punkte in nur vier Monaten. Das muss man erstmal schaffen, da war dann auch eine Grenze erreicht. Ich war schon fair, zweimal pro Jahr erließ ich jeder Person auf der Liste 25 Punkte. Die meisten waren damit ein für allemal gelöscht. Wer allerdings zu viele Punkte hatte, der blieb. Das war ich auch den Katzen schuldig, und dem armen kleinen Hund.
Natürlich wusste niemand das mit den Tieren. Und was Christoph betrifft… Alle dachten natürlich, sie hätten die Warnschilder nicht beachtet. Romantische Winternacht am See – für Astrid tat es mir schon leid, die war gerade auf 23 Punkte runter, direkt nach Neujahr hätte ich sie gelöscht.
Weil ich jetzt ruhiger war, wurde ich auch wieder besser in der Schule, das Abi habe ich gepackt. Die Bundeswehr war ein großes Glück – ich kam nach Eutin zu den Panzeraufklärern. Viele fanden das hart da. Ich nicht, ich war nur glücklich, wieder hier zu sein. Ich weiß nicht, ob das diesmal wirklich am Norden lag oder an der Bundeswehr, aber hier war es auch besser, zuzuhören und nicht zu reden. Ich fuhr irgendwann an den Wochenenden nicht mehr nach Hause, sondern blieb einfach in der Kaserne. Ich ging auch viel spazieren. Vielleicht hätte ich einfach hier bleiben sollen. Beim Bund. Oder wenigstens im Norden. Aber damals habe ich das alles noch nicht verstanden.
Ich hätte nie gedacht, dass Lydia es mal auf die Liste schafft. Lydia war nicht aus dem Norden und auch nicht aus dem Rheinland, Lydia war aus Franken, Oberfranken, das hätte mir eine Warnung sein sollen. Aber ich war so verliebt. Und sie auch. Wir haben uns kennengelernt, da war ich gerade aus der Agentur geflogen. Sie hatten mich traurig gemacht da, keiner hatte weniger als 40 Punkte. Ansgar, mein Redaktionsleiter, war auf 79, als ich meine Wut nicht mehr beherrschen konnte. Danach habe ich ihn aber auf Null gesetzt. Ich habe ihn im Krankenhaus besucht und mich entschuldigt, mit Blumen und so, und Spielzeug für seine Kinder, und er hat die Anzeige wirklich zurückgezogen. Ich bekam sogar eine Abfindung.
Lydia hat in den drei Jahren, in denen wir zusammen waren, nur einmal vier Punkte bekommen, und die habe ich dann auch gelöscht, als wir uns vertragen hatten. Richtig traurig war ich nie mit ihr. Und sie hatte nie etwas dagegen, dass wir, so oft es ging, hierher geflohen sind. Nach Fehmarn, meistens, aber jedes Mal fuhren wir auch nach Mölln, auch wenn ich nie mit ihr in dem Hotel gewesen bin. Vielleicht habe ich damals schon etwas geahnt. Sie konnte meine Vorliebe für die Stadt nie verstehen, bis ich ihr den See gezeigt habe. Wir sind im See geschwommen. Das waren gute Zeiten.
Ich parkte den Wagen, hörte die Hits der 70er und 80er, während die Dunkelheit sich auf die Insel legte, und wartete. Lydia hätte mich nicht verlassen sollen. Schon gar nicht wegen eines Typen der Christoph hieß. Der war auch blond, wie Christoph aus der Schule. Ich war sehr traurig deswegen, eine Katze, noch eine Katze, ein Kaninchen… Aber mir war klar, dass es so nicht weiter gehen konnte. Ich wollte mich mit Lydia aussprechen, ich wollte es aushalten, die Wut besiegen, Christoph hin oder her. Aber sie war nicht da. Sie sei in den Urlaub gefahren, sagte ihre Schwester, mitleidig, die mag mich. In den Urlaub nach Fehmarn, das muss man sich vorstellen. Das ist Verrat. Fehmarn gehörte uns. Der Norden gehört mir. Sie kann doch nicht nach Fehmarn fahren, mit einem Christoph. Ich weinte, während ich ihre Punkte eintrug.
Ich fuhr bis zum Campingpark. Sie hatte es tatsächlich gewagt, hierher zu kommen. Mit dem kleinen Rucksack über der Schulter ging ich die Hauptstraße entlang, bis zu dem Grillplatz auf der Landzunge. Wir hatten eine Ferienwohnung gemietet, damals. An einem Abend waren wir auf die Landzunge hinaus gewandert, hatten über die Bucht geschaut und waren uns einig, wie gut alles war. Dort hatten wir die Nacht verbracht. Jetzt saß ich hier alleine, während sie es in einem der Wohnwagen mit einem Christoph trieb. Nicht mal eine schöne Ferienwohnung war ihr der Verrat wert gewesen. Welcher Wohnwagen es war, wusste ich. Ein Telefongespräch mehr und noch eine Lüge, weiter hatte es nichts gekostet, das zu erfahren. Ich saß noch eine Weile dort, lauschend, bis ich gar nichts mehr hörte, nur die Ostsee. Dann ging ich zu dem Wohnwagen. Sie hatten wohl schon geschlafen, es war alles so einfach. Dennoch dauerte es lange, sie hatten viele Punkte. Der Himmel war schon von dunklem Violett, als ich zurück zum Auto kam. So schön. So gut.
Es wird jetzt nicht mehr lange dauern, das ist klar. Diesmal gibt es kein Warnschild und keinen Irrtum. Ich habe ja sogar meine schmutzigen Klamotten in dem Wohnwagen gelassen. Irgendwer wird das alles sauber machen müssen, das tut mir leid. Ich möchte niemandem Arbeit machen, aber diesmal ging es nicht anders.
Zuerst wusste ich gar nicht, wohin. Da zu bleiben schien mir unpassend. Dann fiel mir Mölln ein, aber ich verstand nicht sofort, dass es der See sein musste. Einer Eingebung folgend bin ich zuerst mal zur Parkettfabrik gefahren. Die gehört ja jetzt den Norwegern. Aber das kann so schlecht nicht sein, die sind ja auch aus dem Norden. An dem Kanal entlang, vorbei an der Tankstelle und dem Supermarkt, wie in alten Zeiten. Als ich auf den Hof des Betriebes fuhr, wurde mir klar, dass ich gar nicht wusste, was ich hier wollte. Der Rucksack lag auf dem Rücksitz und all das Werkzeug darin, aber wozu das? Ich wendete den Wagen und fuhr zurück.
Auf der Suche nach dem Hotel verirrte ich mich erst einmal und fuhr ein wenig durch das Outback des Herzogtums Lauenburg. Viel Wald gibt es hier, das überrascht manche, dann wieder lange, beruhigende Landstraßen und Städtchen, deren Namen an preußischen Generalstab denken lassen. Als ich ganz ruhig und gelassen war, nahm ich den Navi aus dem Handschuhfach und ließ mich zurück leiten. Als ich das letzte Stück der langen, gewundenen Straße zum Hotel im Wald fuhr, sah ich den See durch die Bäume, und ich begann zu verstehen.
Der Schmalsee. Ich bin ein Stück in den Wald gegangen, bis zu einer winzigen Bucht, eher einem Loch im Ufer. Es ist etwas schlammig, aber es reicht. Ich ziehe mich aus und hänge meine Kleidung und den Rucksack an einen niedrigen Ast. Niemand wird sie stehlen, das weiß ich. Ich schwimme die ersten Züge – das Wasser ist kalt, aber wie immer weniger kalt als ich befürchtet habe. Oben auf der Straße fährt ein Auto zum Hotel, noch eins und noch eins. Schnell. Eines hat Blaulicht eingeschaltet, aber keine Sirene. Sie wollen mich überraschen. Ich schwimme mit kräftigen Zügen. Jetzt verstehe ich die Dunkelheit des Sees ganz. Wenn sie kommen, werde ich den Rucksack öffnen und dann wird es enden. Und es ist gut, dass es hier endet.
ENDE
*Dies ist eine allgemeinverständliche Zusammenfassung der Lizenz und Haftungsbeschränkung (die diese nicht ersetzt).
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