Kommt näher, ich erzähle meine Geschichte vom „Ruf“. Heute haben die im Wohnzimmer Eingeschlossenen, nach dem fatalen Scheitern ihrer Expedition sehr, sehr irdische Probleme. Andere dagegen… nun, hört selbst:
Der Ruf – Teil 1, Hintergrund, Rechte
Der Ruf – Teil 2 Der Ruf – Teil 3 Der Ruf – Teil 4 Der Ruf – Teil 5
Der Ruf – Teil 6 Der Ruf – Teil 7 Der Ruf – Teil 8 Der Ruf – Teil 9
Der Ruf – Teil 10 (mit Gewinnspiel)
Der Ruf – Teil 11 Der Ruf – Teil 12 Der Ruf – Teil 13 Der Ruf – Teil 14
Der Ruf – Teil 15 Der Ruf – Teil 16 Der Ruf – Teil 17 Der Ruf – Teil 18
Der Ruf – Teil 19 Der Ruf – Teil 20 Der Ruf – Teil 21 Der Ruf – Teil 22
Der Ruf – Teil 23 Der Ruf – Teil 24 Der Ruf – Teil 25 Der Ruf – Teil 26
Der Ruf -Teil 27 Triggerwarnung: Suizid
Der Ruf – Teil 28 Der Ruf – Teil 29 Der Ruf – Teil 30 Der Ruf – Teil 31
Der Ruf – Teil 32 Der Ruf – Teil 33
Der Ruf – Teil 34
NACHT 2
This shadow hanging over me
Is no trick of the light
(The Pogues, „Turkish Song of the Damned“)
1
SPUKHAUS
Im Haus, gegen 23.00 Uhr
Sie saßen um den Tisch, wieder. Niemand hielt die Fensterwache. Das hätte bedeutet, hinaus sehen zu müssen. Auf den Garten, die Insekten, auf Justus und Markus.
„Warum hat er das getan?“, fragte Maike. „Es ist alles so gut gelaufen, sie hatten die Handys, sie hätten einfach nur noch reinkommen müssen, und…“
„Sie wären nicht reingekommen,“ sagte Bastian dumpf. „Es war eine Falle.“
„Vielleicht doch“, beharrte Maike. „Vielleicht hätte er es geschafft. Wie im Flur.“
Bastian setzte zu einer Entgegnung an, fing aber einen Blick von Britt auf und ließ es. Wozu auch? Es gab keinen Anlass mehr für Eifersucht und auch keinen, über müßige Fragen zu diskutieren.
„Wir könnten versuchen, doch noch an die Handys zu kommen“, meinte Maike nach einiger Zeit. „Zumindest an das, das Justus gefunden hat. Er ist doch… ziemlich nah an der Tür. Vielleicht könnten wir an den Beutel kommen, da ist es drin.“
Philip schüttelte den Kopf. „Das habe ich mir schon überlegt, als ich das Buch genommen habe. Aber die krabbelten immer noch überall auf ihm rum, der Beutel war kaum zu sehen. Und selbst wenn – wer sagt uns, dass sie ihn nicht mit Absicht genau so weit haben kommen lassen? Damit wir raus kommen, um das Handy zu holen.“ Er fuhr sich durchs Haar. „Sie sind so verdammt schlau. Das mit dem Dach…“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Ich mache die Tür nicht mehr auf. Ich weiß nicht, wie Ihr das seht, aber ich bin dafür, dass wir uns weiter einbunkern. Damit sind wir immerhin über den ganzen Tag gekommen.“
„Und dann?“, fragte Maike.
„Ich weiß nicht. Warten. Vielleicht kommt ja jemand, es ist nur noch diese Nacht und morgen, bevor sie uns vermissen. Wenn Sonntag Abend niemand von uns nach Hause kommt… Was denkt Ihr?“
„Ich werde nicht hier rausgehen“, sagte Britt. „Ich bin auch für Warten.“ Wieder traf sie der Gedanke, der ihr alle paar Minuten durch und durch ging: ‚Philip wollte da raus gehen. Er wollte da raus gehen, und er wäre gegangen, wenn Markus ihn nicht abgehalten hätte.‘ Sie drückte Philips Hand.
„Ich will ja auch nicht raus“, sagte Maike. „Vielleicht fällt uns später ja noch was ein. Irgend etwas… Ich weiß nicht.“
„Was soll uns denn einfallen?“, meinte Bastian. „Bisher ist alles schiefgegangen, und…“
„Nicht alles“, sagte Maike.
„Na ja, aber wenn Du mal überlegst…“
„Sie hat recht“, unterbrach ihn Britt. „Das meiste, was wir gemacht haben, hat sogar geklappt. Das Problem ist bloß – wenn wir einen Fehler machen, stirbt jemand. Wir sollten wirklich sehr genau nachdenken, bevor wir das nächste Mal irgend etwas versuchen. Wir dürfen uns nicht auf das verlassen, was wir sehen und glauben. Und wir dürfen uns nicht auf unser Glück verlassen. Und wenn uns nichts wirklich Wasserdichtes einfällt, müssen wir warten.“
Bastian nickte. „Ich bin auch für Warten. Nichts anderes hat Sinn. Und das vielleicht auch nicht.“
„Meinst Du, es sieht überall so aus wie hier?“
„Vielleicht. Was machen wir, wenn es so ist?“
„Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn uns Montag Mittag immer noch keiner raus geholt hat“, meinte Maike. „Erstmal müssen wir es so lange schaffen.“ Sie fluchte leise.
„Was ist?“, fragte Philip.
„Ich muss mal.“
„Nimm die Saftflasche“, sagte Britt. „Die ist noch lange nicht voll.“
Maike nahm die Flasche und verzog sich in eine Ecke.
„Auch so ein Problem“, sagte Philip. „Wir haben nicht mehr so viele leere Flaschen. Und was ist, wenn…“
„Dann machen wir es irgendwo drauf und verbrennen es im Kamin“, sagte Britt.
„Dafür müssten wir die Abzugsklappe aufmachen“, meinte Bastian.
„Nein. Nicht wenn wir nur ein kleines Feuer machen. Nur Papier. Ein bisschen Papier und… na ja…“
„Scheiße“, ergänzte Philip.
„Danke, Schatz.“
Er schüttelte sich. „Mein Gott, was für ein Thema.“
Maike kam zurück, die Flasche hatte sie so weit wie möglich von der Sitzgruppe stehen lassen.
„Und?“, fragte Britt.
„War nett, danke.“
„Nein, das meine ich nicht. Ich meine die Flasche. Ist sie…“
„Nee, geht noch. “
Bastian winkte ab. „Lasst uns einfach ein Problem nach dem anderen lösen, gut? Philip – was ist?“
Der Angesprochene hatte sich kurz ruckartig umgedreht und sah die anderen jetzt wieder an.
„Was war das?“
„Was?“, fragte Britt.
„Ich weiß nicht – ich dachte, ich hätte was gehört. Wie… weiß nicht. Ist egal, war nichts.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin zu nervös, das ist alles.“ Er seufzte tief. „Ich bin ziemlich platt.“
„Willst Du was schlafen?“
Philip nickte. „Vielleicht keine schlechte Idee. Vielleicht sollten wir alle was schlafen.“
„Einer muss Wache halten“, sagte Maike.
Britt nickte. „Ja. Ich übernehme die erste Wache, okay? Bis Zwei. Dann…“
„Weck‘ mich dann“, sagte Philip.
„Ich nehme die dritte Wache“, bot Bastian an.
„Fein“, sagte Britt, „wäre das geklärt.“
Bastian und Maike legten sich auf den Boden, sie nahm sich einen Rucksack als Kopfkissen, er eine zusammengelegte Jacke. Philip blieb bei Britt auf dem Sofa sitzen.
„Leg Dich auch hin“, sagte sie leise. „Du bist doch müde.“
„Wenn Du nichts dagegen hast, schlafe ich hier bei Dir.“
Sie lächelte. „Was sollte ich dagegen haben?“
„Gut.“ Er streckte sich aus. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn. „Gute Nacht, Philip. Und schöne Träume.“
Er lächelte und strich ihr über den Arm. Sein Blick wanderte fort von ihr, über den Tisch, den Boden, über Maike, die schon schlief und fand schließlich das Buch. Das Buch, das so schrecklich kalt gewesen war.
Was hatte Justus nur mit dem Buch gewollt?
Von Ferne hörte er Stimmen.
„Überlegt mal – was haben wir immer gemacht. Hey, sagt nicht, Ihr habt es vergessen. – Oh bitte, Ihr enttäuscht mich. Kerzen. Gläser…“
Er begriff, dass er auf dem Weg ins Traumland war und ließ sich fallen.
Im Haus, gegen 24 Uhr
Der Geist betrachtete die Menschen, die seine Freunde gewesen waren.
Er brauchte sie.
Er wusste, wer sein Feind war, er hatte es begriffen, in dem unendlichen Augenblick, als er Zeiten und Räume überwunden hatte, als er durch den Tunnel gereist war, den Christoph geöffnet hatte.
Wahrhaftig, diese Séance war ein gewaltiger Erfolg gewesen.
Stephan hatte ein Gefühl wie Lachen.
Der Hohepriester war grausam und er war weise, sehr, sehr weise, selbst nach den Maßstäben seiner hochzivilisierten Rasse.
Er hatte eine uralte, kalte Weisheit besessen, und er besaß sie noch. Alleine war Stephan ihm hilflos ausgeliefert, ihm, der sich lange auf diesen Tag vorbereitet hatte. Die Flucht durch den Tod in eine andere Welt, in einer anderen Zeit. Der erneute Griff nach der Macht unter Wesen, die ihn weder begriffen, noch ihm widerstehen konnten, bevor es zu spät war.
Schon hatte der Hohepriester, bis auf ein verlorenes Häuflein von sechs Todgeweihten, die Zeugen seiner Ankunft ausgelöscht.
Stephan dagegen war zwar auch in der Lage, einen Lebenden in seine Gewalt zu bringen, doch das hatte so viel Kraft gekostet, dass er am Ende gerade noch in der Lage gewesen war, einem Arm zu befehlen und sich dann mit dem Buch hineinziehen zu lassen. Nein, dies war nicht der Weg, auf dem er seine Rache an Kats Mörder vollziehen konnte.
Schmerz schüttelte den Geist, ein Schmerz der Seele. Kat, die er gefunden und wieder verloren hatte. Ihre toten Augen.
Nachdenklich betrachtete Stephan die vier Lebenden im Haus. Mochte sein, dass er alleine nicht die Kraft hatte, den Feind zu vernichten. Mochte auch sein, dass er nicht die Kraft hatte, einen von ihnen in seine Gewalt zu bringen. Was aber, wenn einer von ihnen sich von ihm leiten ließ?.
Eine zufriedene Kälte breitete sich in dem Geist aus, der Stephan gewesen war.
Mochte sein, dass sein Feind ihm überlegen war, in dem Körper, den der Hohepriester sich untertan gemacht hatte. Was aber, wenn Stephan ihn aus diesem Körper herauszwingen würde? Dann der Feind würde schwach sein, des Körpers beraubt, der ihn schützte und zu dessen Beherrschung er ein Großteil der geraubten Kraft verbraucht hatte.
Das war der Schlüssel.
Für einen Moment zweifelte er. Woher wusste er das alles? Ja, er war weit gereist, seit er seinen Körper verlassen hatte, aber… Und wenn er an Kat dachte … warum war die Erinnerung an sie, an seine Gefühle für sie, soviel tiefer und wahrer als alle anderen Erinnerungen an seine Menschlichkeit? Wer hatte zu ihm gesprochen? Wer hatte ihn auf seine Reise geschickt und dann zurück hierher. Warum?
Egal! Seine Gefühle waren echt und er hatte nichts mehr außer ihnen.
Er musste einen Helfer finden, einen, der ihn freiwillig aufnahm.
Sein Blick wanderte über die Vier, während er unbeholfen Erinnerungen durchsuchte.
Bastian. Labil und schwärmerisch, immer bereit, sich einem Stärkeren zu unterwerfen. Ungeeignet, die anderen würden ihm nicht glauben, würden ihn für verrückt erklären und ihm keine Hilfe sein. Bastian kam nicht in Frage.
Er taxierte Maike, die ihm Schlaf leise aufschrie und die Arme um ihren Körper presste. Willensstärker als Bastian, eine loyale Gefolgsfrau, keine Mitläuferin. Sie würde sich ihm vielleicht unterwerfen und dennoch stark bleiben. Und doch – ungeeignet. Ihre Trauer um Justus war zu groß. Er konnte keine Konflikte brauchen.
Philip. Ungeeignet. Er würde eher sich selbst für verrückt halten, als an einen Geist zu glauben, der zu ihm sprach.
Oder?
Der Geist durchsuchte die alten Erinnerungen und fand seine Freundschaft zu Philip. Einst hatte sie ihm viel bedeutet. Philip würde ihr immer noch großen Wert beimessen. In ihrem Namen angesprochen würde er womöglich bereit sein, zu kooperieren.
Ja.
Philip würde seinem ältesten Freund nichts abschlagen. Schon gar nicht, wenn dieser ihn aus dem Reich der Toten um Hilfe bat.
Eine gute Wahl.
Der Geist verschwendete noch einen kurzen Gedanken an Britt, doch sie war schon alleine wegen ihrer Verletzung nicht zu gebrauchen. Sollte es notwendig sein, seinen Wirt durch ein Opfer zu schützen hatte er Maike und Bastian. Sie würden es wahrscheinlich sogar freiwillig tun, wenn er auf die richtige Weise darum bitten würde.
Sein alter Freund.
Eine gute Wahl.
Im Wald, gegen 1.00 Uhr
Der Hohepriester fühlte, dass die Kraft nun ausreichen würde.
Er hieß den Körper, sich vorsichtig zu erheben. Es gelang.
Gut.
Sehr gut.
Er beachtete die Schreie dessen nicht, der den Körper zuvor besessen hatte. Jener war machtlos und ohne Bedeutung.
Der Körper stand, schwankend noch, aber er stand. Er ließ ihn einen Schritt machen. Auch dies gelang.
Gut.
Er hatte viel Zeit gehabt, sich mit den Funktionen dieses Körpers vertraut zu machen. Er ging langsam, sehr langsam. Doch Eile war auch nicht vonnöten.
Einige Wespen flogen herbei, krochen in den Mund des Körpers und nährten ihn.
Auf dem Gesicht, das einmal Christoph gehört hatte, erschien ein starres Lächeln.
Bald würde auch dies nicht mehr vonnöten sein.
Bald würde er sich selbst nähren können.
FORTSETZUNG FOLGT
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