Wieder ist es Sonntag, zum 56. mal zünden Sarah und ich unsere Geschichtenfeuer an. Als ich als Kind in der Grundschule das Einmaleins lernen musste, war meine Hassaufgabe 7 x 8, weswegen sich die Lösung auf immer in mein Gedächtnis gebrannt hat: Siebenmalachtistsechsundfünfzig. Oder anders: Heute beginnt die neunte Woche der Quarantänegeschichten.
Vor acht Wochen, am 15. März, musste Sarah überstürzt Deutschland verlassen, weil die Grenzen dicht gemacht wurden. Inzwischen wissen wir, dass sie, als Österreicherin, jederzeit nach Österreich hätte zurückkehren können, aber damals war das nicht sicher. Zumal weder die Österreichische Botschaft in Berlin (Wochenende) noch das Konsulat in Düsseldorf (Urlaub) für Auskünfte zu erreichen war – Gott bewahre, dass man in einer Pandemie mal jemanden für Auskünfte ans Telefon setzt, OBWOHL Wochenende ist. Am selben Tag haben wir begonnen, unsere Quarantänegeschichten zu erzählen – weil das eben die Aufgabe von Geschichtenerzähler*innen in einer Krise ist, immer schon.
Normalerweise bin ich beruflich alle paar Wochen in Wien, zu Recherchen, Besprechungen, zum Plotten. Geht im Moment nicht oder nur sehr eingeschränkt. Und ich arbeite in einer Branche, die sehr darauf angewiesen ist, dass die Beschränkungen bald fallen. Und so paradox das klingen mag: Aus diesem Grund bin ich nicht nur ausaltruistischen (ich will hier keine Zustände wie in Italien oder Spanien oder irgendeinem Land, dass zunächst mal keinen Lockdown veranstaltet hat), sondern auch aus egiostischen Gründen DAFÜR, dass wir die Beschränkungen noch eine Weile aufrecht erhalten. Wenn wir sie zu früh aufheben bedeutet das, dass die nächste Welle so stark sein wird, dass wir zurück in den Lockdown müssen. Es mag ja Leute geben, denen es egal ist, wenn wir das Land ein zweites Mal runter fahren. Wer gewohnt ist, dass sein Leben so süß und sicher ist, dass er sich die Auswirkungen von Pandemien oder auch Kriegen einfach nicht vorstellen kann, nur weil er selber noch keine erlebt hat, der hält Maskenpflicht dann eben für einen Grund zur Empörung und Beschränkungen bei erlaubten Demos für ein Zeichen von Diktatur. Ah sorry, ich muss mal kurz ausfallend werden…
DIKTATUR? Seid ihr noch ganz dicht? Ihr könnt doch so gut googlen, googlet mal Diktatur, verdammt nochmal! Wenn das hier eine Diktatur wäre, dann wären Ken, Xavier und Attila seltsamerweise in den letzten Wochen auf Nimmerwiedersehen verschwunden, und Euch würde man, anlässlich Eurer Demos, zusammentreiben und hinter irgendwelche Mauen sperren – oder Euch an dieselben stellen, ihr geschichtsvergessenen, wohlstandsverwahrlosten, verwöhnten Jammergestalten.
Ahm… sorry, wo war ich? Ach ja: Ich möchte bitte eine flache zweite Welle, damit in absehbarer Zeit wieder Filme und Serien gedreht werden, damit Künstler*innen auftreten können, damit ich meine beste Freundin wiedertreffen kann, damit ich meinen Geburtstag nachfeiern kann und damit unser Gesundheitssystem auch die zweite und dritte Welle so gut abfangen kann, wie die erste. Also haltet bitte noch ein paar Wochen Disziplin. Danke.
Zurück zu den Geschichten: Seit acht Wochen erzählen wir Euch, wie gesagt, jeden Tag eine, Sarah hat mit Geschichten für Kinder begonnen, ich mit Kurzgeschichten. Sie ist inzwischen zu ihren phantastischen Adventskalendern übergegangen, ich erzähle, seit mir die Kurzgeschichten ausgegangen sind, in Fortsetzungen meinen Roman „Der Ruf“. Und so geht es heute weiter:
Der Ruf – Teil 1, Hintergrund, Rechte
Der Ruf – Teil 2 Der Ruf – Teil 3 Der Ruf – Teil 4 Der Ruf – Teil 5
Der Ruf – Teil 6 Der Ruf – Teil 7 Der Ruf – Teil 8 Der Ruf – Teil 9
Der Ruf – Teil 10 (mit Gewinnspiel)
Der Ruf – Teil 11 Der Ruf – Teil 12 Der Ruf – Teil 13 Der Ruf – Teil 14
Der Ruf – Teil 15 Der Ruf – Teil 16 Der Ruf – Teil 17 Der Ruf – Teil 18
Der Ruf – Teil 19 Der Ruf – Teil 20 Der Ruf – Teil 21 Der Ruf – Teil 22
Der Ruf – Teil 23 Der Ruf – Teil 24 Der Ruf – Teil 25 Der Ruf – Teil 26
Der Ruf -Teil 27 Triggerwarnung: Suizid
Der Ruf – Teil 28 Der Ruf – Teil 29 Der Ruf – Teil 30
Der Ruf – Teil 31
Im Haus, gegen 22.30 Uhr
Bastian klopfte Justus auf den Helm.
„Bereit?“
„Ja.“ – ‚Sofern man zu so etwas bereit sein kann‘, ergänzte er im Stillen. Justus spürte, wie Adrenalin seinen Körper durchspülte, Welle um Welle. Sein Herz schlug schnell und hart, er atmete tiefer. ‚Adrenalin ist Dein Freund, macht Dich schnell, macht Dich stark‘. Gut, gut, er konnte das brauchen. Er würde schnell sein müssen. Justus’ Kiefermuskeln zuckten, seine Zunge klopfte schnell gegen seine Zähne. Er traute dem Frieden da draußen absolut nicht.
Er würde schnell sein müssen. Schnell.
Maike stand vor ihm, strich über seinen Arm und sah ihn an.
„Du schaffst es“, sagte sie, „Du hast es im Flur geschafft, Du schaffst es auch im Garten.“
„Wollen wir’s hoffen.“
„Sicher. Denk dran, was Du mir versprochen hast.“
Er grinste. „Okay.“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf den Helm.
Philip legte Justus eine Hand auf die Schulter.
„Viel Glück.“
„Kann ich brauchen.“
„Mach einfach nichts Unnötiges. Egal wo Du bist – es sind immer nur ein paar Schritte bis zur Tür. Du musst nur schnell sein, dann schaffst Du es.“
Justus nickte. Philip drückte ihm noch einmal die Schulter und wandte sich an Markus, der immer noch absolut ruhig war.
„Alles klar bei Dir?“
Markus nickte. „Ja.“
Britt nahm Markus in den Arm und drückte ihn wortlos.
Sie verabschiedeten sich und gingen gemeinsam zur Tür. Justus und Markus steckten die Leinenbeutel in die Gürtel, die sie sich um die Hüften geschlungen hatten, nahmen ihre Handtücher und Haarspraydosen auf und klappten die Visiere runter. Dann öffnete Bastian die Tür und sie betraten die Terrasse, von der sie sich vor 13 Stunden durch eben diese Tür gerettet hatten.
In der Sauna, 22.30 Uhr
„Komm mal schnell! Da tut sich was!“
„Was denn?“ Simon ließ sich von der Bank gleiten und humpelte zu Chris ins Badezimmer. Sie stand vor dem Fenster und gestikulierte aufgeregt.
„Ich weiß es nicht. Ich habe was gehört. Ich glaube, da sind welche auf die Terrasse gegangen. Aus dem Haus.“
„Was? Echt?“ Er drängte sich neben sie, doch auf dem Teil der Terrasse, der von hier aus einzusehen war, war nichts zu entdecken.
„Was hast Du gesehen?“
Chris schüttelte den Kopf.
„Gesehen habe ich gar nichts. Aber gehört. Da ist jemand aus dem Haus gekommen.“
„Noch ein Verrückter?“
„Weiß ich nicht. Vielleicht ist ja Hilfe gekommen. Irgend jemand, die Feuerwehr oder so. Da sind wirklich noch welche von uns drüben. Vielleicht haben sie es ja geschafft, jemanden zu benachrichtigen.“
Ihr Optimismus war ansteckend, er umarmte sie und zog sie an sich.
„Vielleicht.“
Sie klatschte in die Hände.
„Bestimmt. Komm, lass uns gucken, vielleicht sehen wir ja doch was.“
Sie wandten sich wieder dem Fenster zu und spähten gespannt hinaus.
Im Garten, 22.31 Uhr
Markus legte die Decke liebevoll über Tanja. Egal, wie sie sie zugerichtet hatten, er hatte die Frau gesehen, mit der er sich seine Zukunft erträumt hatte. Er war neben ihr niedergekniet, hatte ihr ein paar Worte zugeflüstert, die ihm wichtig waren, hatte ihr Gesicht noch einmal berührt, hatte Abschied genommen. Nun deckte er sie zu und war mit sich im Reinen. Er stand auf und sah zu Justus hinüber, der mit einer Hand das O.K.-Zeichen machte. Irgend etwas stimmte nicht an diesem Bild und Markus schaute angestrengt nach links und rechts. Doch da war nichts Beunruhigendes zu sehen. Im Gegenteil, die Insekten verhielten sich erstaunlich träge und passiv, wie vom ersten Moment an, seit sie aus der Tür gekommen waren. Es schien einfacher zu werden als befürchtet. Aber dennoch – sein Unterbewusstsein versuchte verzweifelt, ihn zu warnen. Und er hatte keine Ahnung wovor.
Markus wischte den Gedanken weg. Keine Zeit für sowas.
Er untersuchte zuerst die beiden Jacken die neben dem Kamin über einem kleinen Plastiktisch lagen, einen blauen Blouson und eine Jeansjacke. Er hatte kaum zwei Sekunden getastet, als er in der Jeansjacke fündig wurde – ein Smartphone. Er hielt es in die Höhe und Justus gab ihm ein Daumen-Hoch-Salut. Markus nahm die breite Ledertasche, die neben einem Holzstoß an der Wand lehnte und sah sich noch einmal kurz auf seiner Seite der Terrasse um. Aber da gab es nichts mehr zu untersuchen. Er lief zu Justus zurück, steckte das Handy in den Leinenbeutel, stellte die Tasche neben sich, nahm Handtuch und Haarspray und tippte Justus an. Der nickte und machte sich auf den Weg zum großen Holztisch.
Im Garten, 22.33 Uhr
Der Geist sah, wie Justus sich in Bewegung setzte und erkannte, dass dieser Moment der günstigste war. Die Entfernung stimmte, die Zeit reichte, es würde gelingen.
Ein kurzer Zweifel nagte an ihm, zusammen mit einer Ahnung von Reue. Er schob beides beiseite.
In der Sauna, 22.33 Uhr
„Siehst Du, siehst Du?“
Simon nickte. „Ja. Wer ist das? Das ist doch kein Feuerwehrmann.“
„Nein, das ist einer von uns. In Motorradkluft verpackt, das ist clever. Kannst Du erkennen, wer es ist?“
„Nein. Die Klamotten sind von Khan, aber es könnte jeder da drin stecken. Was macht er da?“
„Er sucht was.“
In diesem Moment hielt die Gestalt am Tisch etwas in die Luft, und Chris jubelte auf.
„Ein Handy, es ist ein Handy. Er hat sich die Motorradklamotten angezogen und ist raus gegangen, um Handys zu suchen. Und er hat eins gefunden. Oh Mann…“
Sie schaute gebannt aus dem Fenster und drückte unwillkürlich die Daumen.
„Jetzt geht er zurück“, kommentierte Simon überflüssigerweise. „Wenn er wieder drin ist, kann er Hilfe rufen. Und… Na nu.“
„Was macht er denn jetzt?“, fragte Chris verblüfft.
FORTSETZUNG FOLGT
Wenn wir sie zu früh aufheben bedeutet das, dass die nächste Welle so stark sein wird, dass wir zurück in den Lockdown müssen. Es mag ja Leute geben, denen es egal ist, wenn wir das Land ein zweites Mal runter fahren. Wer gewohnt ist, dass sein Leben so süß und sicher ist, dass er sich die Auswirkungen von Pandemien oder auch Kriegen einfach nicht vorstellen kann, nur weil er selber noch keine erlebt hat, der hält Maskenpflicht dann eben für einen Grund zur Empörung und Beschränkungen bei erlaubten Demos für ein Zeichen von Diktatur.
Da bin ich voll und ganz bei dir, mir geht das gerade auch ein bisschen zu schnell. Und die Vernunft ist seinerzeit wohl eh nicht ganz gerecht verteilt worden… Aber gut, man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Ich halte es gerne mit Oscar Wilde „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“
Liebe Grüße
Flocke
P.S. immer diese diesen Cliffhänger… 🙂
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Wenn wir sie zu früh aufheben bedeutet das, dass die nächste Welle so stark sein wird, dass wir zurück in den Lockdown müssen. Es mag ja Leute geben, denen es egal ist, wenn wir das Land ein zweites Mal runter fahren. Wer gewohnt ist, dass sein Leben so süß und sicher ist, dass er sich die Auswirkungen von Pandemien oder auch Kriegen einfach nicht vorstellen kann, nur weil er selber noch keine erlebt hat, der hält Maskenpflicht dann eben für einen Grund zur Empörung und Beschränkungen bei erlaubten Demos für ein Zeichen von Diktatur.
Da bin ich voll und ganz bei dir, mir geht das gerade auch ein bisschen zu schnell. Und die Vernunft ist seinerzeit wohl eh nicht ganz gerecht verteilt worden… Aber gut, man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Ich halte es gerne mit Oscar Wilde „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“
Liebe Grüße
Flocke
P.S. immer diese fiesen Cliffhänger… 🙂
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