Auf geht’s, in die fünfte Woche der Quarantängeschichten. Seit dem 15. März stellen Sarah und ich jeden Tag Lesestoff ein – wir bitten Euch quasi ans virtuelle Lagerfeuer und erzählen Euch eine Geschichte, wie es die Aufgabe unserer uralten Geschichtenerzähler*innenzunft ist, seit es Menschen gibt. Auch wenn in Österreich und Deutschland langsam vorsichtiger Optimismus angebracht erscheint – immer noch ist soziale Isolation das Gebot der Stunde. Gerade deshalb zünden wir wieder an unsere Geschichtenfeuer an – Sarah mit ihrer Geschichte für die jüngere Leserschaft, ich für die älteren.
Weiter geht es also mit der Vorstellungsrunde der wichtigesten Figuren in „Der Ruf“:
Der Ruf – Teil 1, Hintergrund, Rechte
Der Ruf – Teil 3
Opladen, Vormittag
Er sah Philip schon von weitem. Opladen war nicht ganz so tot wie Langenrath, aber der Bahnsteig war leer genug, dass Stephan seinen Freund ohne große Anstrengung ausmachen konnte. Er sah den braunen Schopf, der jetzt rapide grau wurde und die unvermeidliche blaue Jacke.
Die Bremsübungen des Lockführers hatten diesmal einen anderen Erfolg – der Zug hielt so weit hinten, dass die Lok am Beginn der Wartezone zum Stehen kam. Sie ruckte noch einmal kurz an, so dass die an den Türen wartenden Fahrgäste hübsch durchgeschüttelt wurden und blieb dann endgültig stehen. Die Tür entriegelte, Stephan stieg hinaus, in die Hitze des Bahnsteiges und war schon fast neben dem Bahnhofsgebäude angelangt, als Philip ihn bemerkte. Mit wenigen Schritten war er bei Stephan:
„Ich habe mich schon gewundert, welcher Idiot bei diesem Wetter in Schwarz rumrennt.“
Stephan schaute an sich herunter. „Mein T-Shirt ist grau.“
Sie umarmten sich.
„Freust Du Dich auf die Party?“ fragte Philip.
Stephan zuckte mit den Achseln. „Eigentlich schon. Ich hoffe nur, es artet nicht in so eine ‚mein-Haus-mein-Auto-mein-Boot-Orgie‘ aus.“
Sie verließen den Bahnsteig durch den Nachtausgang zwischen Bahnhofsgebäude und Fahrradständer.
„Wieso eigentlich?“, meinte Philip. „Du kannst doch einiges vorweisen, mit Deinen Comics. und ich glaube nicht, dass es dazu verkommt. Nicht, wenn sich die Leute nicht völlig gedreht haben.“
Stephan nickte. „Genau.“
Sie waren bei Philips Wagen, einem weißen Mazda, angekommen und stiegen ein. Stephan warf sein Gepäck achtlos auf den Rücksitz und legte das Buch ins Handschuhfach, wo sich schon drei Dosen Cola befanden. Philip startete den Wagen.
Sie hatten nach dem Abitur Kontakt gehalten und waren Freunde geblieben. Stephan hatte dann Deutsch und Philosophie studiert und nebenbei geschrieben, ein Verhältnis, das sich langsam aber sicher umgekehrt hatte. Philip hatte ebenfalls studiert, erst ein wenig Medizin, dann ein wenig Soziologie, um am Ende bei den Wirtschaftswissenschaften zu enden. Er hatte zu seinem großen Entsetzen festgestellt, dass er Talent dafür hatte, dass es ihm sogar Spaß machte. Nun arbeitete er in einer Düsseldorfer Immobilienvermittlung und fürchtete, dass er eines Tages den Laden seines Vaters übernehmen würde. Nein, er wusste es. Früher hatte er seine Eltern so grässlich spießig gefunden. Nun hatte er erkannt, dass er im Grunde dasselbe wollte. Ein ruhiges Leben. Einen Job, der Spaß machte. Familie. Spießig und glücklich eben. Konservativ, so vermutete er, würde er dann wohl von selbst werden. Er hatte sich ein paar Mal mit Stephan darüber unterhalten, der die dräuende Fratze des Kleinbürgertums in Philips Fall nicht so bedrohlich fand. Trotzdem – der Gedanke, im Meer der Bourgeoisie zu versinken, ängstigte Philip weiterhin. Aber immerhin fehlten im noch die – in seinen Augen – wichtigsten Attribute: Frau, Kinder, Haus und Hund. Der aktuelle Dackel seiner Eltern hieß Wasti.
„Was hältst Du davon?“, fragte Philip eine gute Viertelstunde später. Sie hatten gerade das Ende des obligatorischen Staus vor Remscheid erreicht, die Ellenbogen aus den Fenstern gehängt und begonnen, die inzwischen warme Cola zu trinken, während die Ramones verkündeten, dass sie nicht auf dem „Pet Semetary“ beerdigt werden wollten. Verständlich.
Stephan schluckte seine warme Cola und verzog wohlig angeekelt das Gesicht. „Wovon?“
„Na ja, von der Idee an sich. Revival nach fünfzehn Jahren und so.“
„Gute Idee. War ja wirklich nett damals.“
„Ja, vor allem der See, weißt Du noch?“, fragte Philip. „Es ist wieder genau derselbe Platz oder? Dasselbe Haus?“
Stephan nickte, während er sich noch etwas tiefer in den Sitz sinken ließ. „So habe ich die Einladung jedenfalls verstanden.“
Philip starrte versonnen vor sich hin, es ging immer noch nur im Schritttempo weiter. „Weißt Du noch, Chris‘ Eltern hatten damals sogar ‘nen Bus gechartert. Die Party war das Geburtstagsgeschenk.“
Stephan fuhr aus seiner lässigen Haltung hoch, der Sicherheitsgurt bremste ihn usnanft.
„Autsch! Geburtstag! Mist! Hast Du ein Geschenk?“
Philip sah ihn erstaunt an. „Klar. Ein Buch von Matt Ruff. Du nicht?“
„Scheiße, nein.“ Stephan fuhr sich zerstreut durch die Haare. „Ich habe das Ganze immer mehr als Revival-Party gesehen. Stand auf der Einladung was von Geburtstag?“
„Ja, vorne drauf, ziemlich dick.“
„Scheiße.“
„Eigentlich stand da“, zitierte Philip genüsslich grinsend. „Ich feiere meinen 31. Geburtstag – und DU bist eingeladen. Genau wie damals. War eine ziemlich exakte Kopie der alten Einladung.“
„Ich weiß“, murmelte Stephan, „mir ist die Form eben etwas mehr aufgefallen als der Inhalt.“
„Bla, bla, bla.“
Stephan sah ihn säuerlich an. „Du hast gut lästern. Was mache ich denn jetzt?“
„Du kannst unterwegs was besorgen. Wenn wir von der Autobahn runter sind. In Remscheid oder Wipperfürth oder so.“
„Da gibt’s Geschäfte?“
Philip lachte. „Na ja… für jemanden der in Hamburg wohnt… Aber ja, doch. Geschäfte gibt’s.“
Stephan grübelte. „Wenn wir an einem Comic-Laden vorbeikommen würden…“
„Du willst ihr doch hoffentlich keines von Deinen Werken schenken, oder?“
„Nee. Aber da gibt es ein paar andere Gute… . Andererseits – ich habe keine Ahnung, was ihr gefallen würde. Ich kenne Chris ja gar nicht mehr. Warum meinst Du, dass Dein Buch ihr gefällt?“
„Es ist mein Lieblingsbuch. Ich will Leute dazu missionieren.“
„Du weißt also auch nicht, was ihr gefallen könnte.“
„Keine Ahnung.“ Philip schüttelte den Kopf. „Ich habe sie in den letzten zehn Jahren drei Mal gesehen, das letzte Mal vor zwei Jahren am Bahnhof. Ich habe keinen Schimmer, was sie mag.“
„Ich habe Christoph irgendwann mal gesehen. Und Britt, letztes Jahr, als ich mal in Opladen in der Fußgängerzone war,“ sinnierte Stephan. „Es ist so verdammt lange her. Was haben wir ihr damals nochmal geschenkt. Den Mofa-Helm, oder?“
„Ja, und den Nierengurt. Wir haben alle zusammengeschmissen.“
Sie betrachteten eine Weile schweigend den Stau vor sich.
„Hast Du eigentlich eine Ahnung, wer alles kommt?“, fragte Stephan dann.
„Nein. Katja wird wohl da sein. Chris und sie sind immer noch befreundet.“
„Katja?“
„Ja“, sagte Philip und beobachtete seinen Freund aus dem Augenwinkel, aber dessen Gesicht ließ auf keinerlei Gemütsregung schließen. Was nichts bedeutete – Stephan konnte ein erstklassiges Pokerface bewahren, wenn er wollte. Mit einem Mal allerdings breitete sich ein sonniges Grinsen darauf aus.
„Was ist mit Justus?“
Philip verschluckte sich an seiner Cola und hustete. „Mist, darüber habe ich ja noch gar nicht nachgedacht“, sagte er schließlich. „Na ja, vielleicht hat er sich geändert.“
„Hoffentlich nicht.“
„Oh bitte, Stephan.“ Philips Verzweiflung war nur teilweise gespielt. „Ich habe den nie ertragen. Ich weiß noch genau, wie Christoph und Britt den angeschleppt haben.“
Stephan Grinsen wurde noch breiter. „Ich fand ihn zum Schreien.“
Philip musste wider Willen lachen. „Zugegeben, er hatte seine Momente. Vielleicht freue ich mich ja doch darauf, ihn wiederzusehen.“
Flughafen Düsseldorf, Vormittag
Justus freute sich eindeutig nicht darauf, Stephan oder Philip wiederzusehen. Im Grunde freute er sich nicht darauf, überhaupt irgend jemand wiederzusehen. Er erinnerte sich ungern an seine Jugend. Er war naiv gewesen, unreif eben. Und sie nicht besser. Justus hatte sich erst spät befreit. Sein Vater war gestorben und hatte per Testament versucht, die Jahre, in denen er seinen einzigen Sohn aus erster Ehe vernachlässigt hatte, wieder gut zu machen. Justus hatte dem alten Sack nicht vergeben, aber das Geld hatte ihm eine Fülle neuer Möglichkeiten eröffnet. Jetzt lebte er in einem kleinen Haus im Ardèche, kam mit den Zinsen sehr gut über die Runden und widmete sich den ganzen Tag seiner Kunst. Er war alleine und zufrieden. Und dann war ihm dieser Brief ins Haus geflattert. Er hatte sich einen Moment lang gefragt, wer zur Hölle Christina Sand war. Natürlich. Eine von denen. Eine von seinen Freunden aus Jugendzeiten. Er wollte niemanden wiedersehen. Keine Christina, keine Britt, um Himmelswillen nicht Britt, und auch die anderen nicht. Er hatte den Brief in den Papierkorb geworfen und sich wieder ans Malen gegeben.
Aber immerhin hatte sie ihn wiedergefunden…
Er hatte sich gefragt, was aus den anderen geworden war. Er hatte es geschafft, er lebte seinen Traum. Was mochten sie heute machen?
Er hatte an Christoph gedacht. Mit dem hatte er sich eigentlich immer gut verstanden. Justus hatte einen Moment nachgedacht, dann hatte er den Quast weggelegt und den Brief aus dem Papierkorb geholt. Warum eigentlich nicht?
Jetzt saß er am Düsseldorfer Flughafen, wartete auf seine Reisetasche und verfluchte seineSentimentalität. Der Erfolg war, dass er sich jetzt mit einem sauteuren Mietwagen auf den Weg in das Outback des Bergischen Landes machen durfte, um dort einen Haufen Menschen wiederzutreffen, die ihn schon vor fünfzehn Jahren halb totgenervt hatten.
Seine Tasche kam, er seufzte und holte den Schlüssel für einen BMW ab. Als er zum Wagen ging, dachte er über ein Bild nach, an dem er im Moment arbeitete. Er wusste nicht, woher er die Idee dazu gehabt hatte, er war mitten in der Nacht aufgestanden und hatte begonnen zu malen. Die Leinwand nahm fast eine ganze Wand seines Ateliers ein, das Gemälde war eine wilde Komposition aus Schwarz und Rot. Als er fast fertig gewesen war, war eine Wespe durchs Fenster herein gekommen, hatte sich auf die Leinwand gesetzt und war daran kleben geblieben. Nun überlegte er, ob er sie dran lassen oder entfernen sollte. Eigentlich passte sie ganz gut dazu.
Er fand den Wagen setzte sich hinein. Jetzt würde er erst einmal dieses Wochenende hinter sich bringen. Um die Wespe konnte er sich danach Gedanken machen.
Am See, Mittag
„Die ganze Idee war irrsinnig“, klagte Chris. „Ich kenne die alle doch gar nicht mehr. Mit etwas Pech öden sich hier nachher einundzwanzig Leute entsetzlich an und um neun gehen alle wieder. Dann sitzen wir da, auf unserem Bier, unseren Koteletts und der ganzen albernen Idee.“
Katja lachte. „Ja und? Dann gehen wir halt rüber ins Dorf, sammeln ein paar kräftige bergische Jungbauern ein und…“
„Verdammt Kat, ich meine es ernst. Was ist, wenn es ein Reinfall wird?“
Sie wuschelte Chris durch die nassen Haare. „Es wird kein Reinfall. Überleg doch mal: Einundzwanzig Leute haben geantwortet. Meinst Du, die sind nicht alle mindestens genauso gespannt wie wir?“
„Meinst Du?“
„Alleine schon die „Weißt-Du-Noch-Damals-Geschichten“ reichen mindestens bis Samstagabend. Und bis dahin fühlen sich alle wohl und haben sich wieder aneinander gewöhnt.“ Sie lachte wieder. „Und sind wahrscheinlich so besoffen, dass keiner mehr ans Weggehen denkt. Glaub mir, es wird ein Erfolg.“
Chris lächelte vorsichtig. „Dein Wort in Gottes Ohr.“
Sie saßen am Ufer des Sees, schauten aufs Wasser hinaus, in dem sie eben noch geschwommen waren, trockneten in der Sonne und hingen ihren Gedanken nach.
„Genau wie damals“, sagte Chris nach einer Weile versonnen.
„Hm?“
„Damals sind wir auch noch an den See gegangen, bevor die ersten Gäste gekommen sind.“
„Hmja. Damals war es auch so heiß.“ Katja sah zum anderen Ufer hinüber. Es sah tatsächlich alles so aus wie vor fünfzehn Jahren, als wäre die Zeit stehengeblieben. In der ersten Nacht war sie mit Stephan auf die andere Seite geschwommen. Zu dem Zeitpunkt war noch alles in Ordnung gewesen. Sie hatten die Feuer betrachtet, die am anderen Ufer gebrannt hatten, und geträumt. Katja fragte sich, ob ihre Erinnerung es verklärte, oder ob es damals tatsächlich so traumhaft gewesen war. Ersteres, vermutlich.
„Es wird anders sein“, sagte sie.
Bergisches Land, hinter Bergisch Born, gegen Mittag
„Gottverfluchter Organspender, überhol doch, wenn Du es so eilig hast!“, brüllte Philip. Der schwarze Ford Ka klebte jetzt schon seit mindestens zwei Kilometern an ihrer Stoßstange. Im Gegensatz zu den anderen Dränglern, die sie permanent überholt hatten, seit sie die Autobahn verlassen hatten — vorzugsweise vor Hügelkuppen und unübersichtlichen Kurven — war dieser besonders hartnäckig. Offenbar wollte er ihnen die rechte Fahrweise beibringen. Stephan drehte sich in seinem Sitz um und versuchte Stirnrunzelnd, den anderen Fahrer zu erkennen.
„Es ist ‘ne Frau, glaube ich“, meinte er.
„Dann eben Organspenderin“, schimpfte Philip. „Scheißegal, was es ist, die soll mir nicht so verdammt nah auf der Pelle hängen.“
„Sie winkt“, verkündete Stephan.
„Steht die auf Dich, oder was?“, knurrte Philip.
„Keine Ahnung, ich kann sie kaum erkennen, die Scheibe ist irgendwie getönt.“
„Winkt sie immer noch?“
„Nein, sie…“
Die Hupe des Ka quäkte zweimal.
„…sie hupt. Vielleicht ist was mit Deinem Wagen?“
Philip lenkte den Mazda auf den Seitenstreifen und hielt an. Der Ka hielt ebenfalls.
„Wollen mal sehen, was am Start ist“, murmelte Philip und stieg aus. Stephan tat es ihm nach.
Die Fahrerin des Ka stieg ebenfalls aus, eine Frau in ihrem Alter. Die langen blonden Haare hatte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden. Unterhalb ihrer Sonnenbrille trug sie ein breites Grinsen.
„Hallo Philip, hallo Stephan!“
Auch auf Stephan Gesicht erschien ein fröhliches Grienen. „Hey Britt!“
Philip fielen sichtbar die Schuppen von den Augen. „Britt! Hey! Schön Dich zu sehen!“
„Eben hat er Dir noch die Pest an den Hals gewünscht“, petzte Stephan.
„Tut mir leid. Ich bin schon eine ganze Zeit hinter Euch…“
„Ich weiß“, sagte Philip.
„…und ich war mir die ganze Zeit nicht richtig sicher. Aber als Stephan sich dann umgedreht hat, war ich sicher.“
Sie standen sich einen Moment unsicher gegenüber und gaben sich dann freundschaftlich die Hände.
„Ihr fahrt auch zur Party.“ Keine Frage, eine Feststellung.
Philip nickte. „Ja, aber wir müssen noch einen kleinen Umweg machen.“ Er grinste schadenfroh. „Der Held hier hat kein Geschenk.“
Britts Lächeln gefror und sie legte erschrocken eine Hand vor den Mund.
„Scheiße…“
„Oh bitte!“ Philip blickte von Britt zu Stephan und zurück.
„Echt – daran habe ich gar nicht gedacht. Ich dachte, Revival-Party und dann… “ Sie zog die Sonnenbrille ab und drehte sie ratlos in der Hand.
„Langsam frage ich mich, wer hier was falsch verstanden hat“, sagte Stephan.
„Nee, er hat völlig recht.“ Britt schüttelte den Kopf. „Das ist eindeutig ’ne Geburtstagsparty. Shit. Was mach ich denn jetzt?“
„Dich uns anschließen“, schlug Philip vor. „Vielleicht findet Ihr ja zusammen was Passendes.“
Wipperfürth, gegen Mittag
Während Britt, Philip und Stephan ein paar Kilometer entfernt Wiedersehen feierten, war Sabine Kaplan in weniger ausgelassener Stimmung. Sie war jetzt sicher, dass sie sich verfahren hatte, und dass sie mittlerweile mindestens eine halbe Stunde hinter ihrem Zeitplan war. Das war an sich nicht so schlimm, sie hatte eine Mittagspause eingeplant, die ihr einen Zeitpuffer von einer Stunde sicherte. Würde die Pause eben ein wenig kürzer ausfallen. Aber ärgerlich war es trotzdem. Sie hatte sich den Weg über Google Maps und vorsichtshalber noch einen zweiten Routenplaner ganz genau ausgearbeitet, sogar noch die Satellitenbilder angesehen und nun das. Sie war mit ziemlicher Sicherheit falsch abgebogen und dann sehr, sehr viele Kilometer in die falsche Richtung gefahren. Wenn sie richtig überschlagen hatte, musste sie inzwischen in Lindlar sein. Aber hier sah ja auch alles gleich aus, sehr viel Gegend und hin und wieder mal ein Städtchen. Und nun schien die Welt zu Ende zu sein, die Straße führte immer weiter durch Wiesen und Felder.
Sie lebte in Düsseldorf, hatte nach einem glänzend abgeschlossenen Jurastudium sofort eine Anstellung in einer der ältesten und angesehensten Anwaltskanzleien der Stadt – Mannheimer, Wetter, Pfeiffer und Tump – bekommen, das musste man erstmal schaffen. Und ihre Vorgesetzten waren sehr angetan von ihrem Fleiß und ihrem Können, ihre Verantwortungsbereiche und Kompetenzen waren nach einer kurzen Testphase kontinuierlich gewachsen, und ein Ende war nicht abzusehen.
Christinas Einladung hatte sie überrascht und erfreut. Damals war sie gar nicht so eng mit Chris befreundet gewesen, sie hatten im selben Basketballteam gespielt, und so war sie auch zu einer Einladung gekommen. Die Feier selber war ein, wenn nicht der Höhepunkt ihrer Jugend gewesen. Natürlich – alles würde anders sein. Aber Christina hatte in das selbe Haus eingeladen. In denselben Wald. An denselben See.
Doch nun schien von Anfang an alles schief zu gehen. Erst der Stau, der sie von ihrer geplanten Route A auf Route C gezwungen hatte, die von Wuppertal aus über Land führte. Dann, trotz aller Planung, trotz aller Vorbereitung, dieser Fehler, dieser falsche Abzweig.
Aber da war ein Mensch. Sie schaute fast erstaunt durch die Windschutzscheibe, hier hatte sie im Ernst niemanden erwartet. Es war ein Mann, Mitte 30 vielleicht, der einen großen Hund spazieren führte. So einer hätte ihr genauso gut am Düsseldorfer Rheinufer begegnen können. Sabine fuhr langsam, hielt neben ihm an und ließ das Fenster herunter.
Der Mann sah interessiert ins Auto.
„Hallo.“
„Ja, guten Tag“, sagte Sabine. „Das ist Lindlar?“
Der Mann zwinkerte irritiert.
„Äh. Nein. Das hier gehört zu Wipperfürth. Wenn Sie nach Lindlar…“
„Sind Sie ganz sicher? Das kann eigentlich nicht Wipperfürth sein.“
Der Mann zwinkerte erneut.
„Doch, schon. Ich wohne hier, ich sollte es eigentlich wissen.“
In Sabines Kopf rasten Landkarten und Satellitenbilder vorbei, drehten sich, auf den Karten erschienen Wegmarken und Streckenmarkierungen und verschwanden wieder. Kein Plan wollte stimmen. Andererseits schien der Mann die Wahrheit zu sagen. Oder machte er sich nur einen Witz auf Kosten der blöden Städterin? Nein, er wirkte eigentlich nicht wie so ein Hillbilly. Recht kultiviert, eigentlich. Aber was er sagte, ergab keinen Sinn. Wie konnte das sein. Sie war doch vorhin falsch abgebogen und dann…
„Wo wollen Sie denn hin?“
Sabine schreckte aus ihren Überlegungen. Der Mann war noch da und sah sie freundlich und immer noch ein wenig irritiert an.
„Bitte?“, fragte Sabine.
„Wohin möchten Sie? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“
Sabine stutzte kurz. Natürlich. Das war eine gute Idee. Sie sagte ihm, wohin sie wollte, und er nickte.
„Ja, das ist eigentlich gar nicht so schwer. Ist noch ein ganzes Stück von hier, aber leicht zu finden. Wo dann dieses Haus selbst ist, weiß ich jetzt natürlich nicht, aber sie fahren über…“ und er beschrieb ihr den Weg.
Sabine bedankte sich, fuhr weiter und folgte, anfangs noch etwas misstrauisch, seiner Beschreibung. Das Misstrauen verflog schnell. Er hatte ganz offensichtlich Recht gehabt. Schon einige hundert Meter nach dem großen Nichts, das sie an ein Zeitportal hatte denken lassen, kam sie durch eine kleine, moderne Siedlung, und zwei Abzweigungen weiter war sie wieder auf der Strecke, die sie geplant hatte. Sie war nicht falsch abgebogen – sie hatte es nur gedacht und danach die Wegweiser einfach nicht mehr richtig einordnen können. Wie seltsam. Aber nun war sie wieder auf dem richtigen Weg, gut in der Zeit. Sehr gut. Sie liebte Überraschungen nicht.
FORTSETZUNG FOLGT
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