Kommt ein wenig näher, ich erzähle weiter aus der Geschichte vom „Ruf“. Der Hohepriester macht seinen nächsten Zug, derweil findet Philip sich bis zum Hals in Dilemmata wieder:
Der Ruf – Teil 1, Hintergrund, Rechte
Der Ruf – Teil 2 Der Ruf – Teil 3 Der Ruf – Teil 4 Der Ruf – Teil 5
Der Ruf – Teil 6 Der Ruf – Teil 7 Der Ruf – Teil 8 Der Ruf – Teil 9
Der Ruf – Teil 10 (mit Gewinnspiel)
Der Ruf – Teil 11 Der Ruf – Teil 12 Der Ruf – Teil 13 Der Ruf – Teil 14
Der Ruf – Teil 15 Der Ruf – Teil 16 Der Ruf – Teil 17 Der Ruf – Teil 18
Der Ruf – Teil 19 Der Ruf – Teil 20 Der Ruf – Teil 21 Der Ruf – Teil 22
Der Ruf – Teil 23 Der Ruf – Teil 24 Der Ruf – Teil 25 Der Ruf – Teil 26
Der Ruf -Teil 27 Triggerwarnung: Suizid
Der Ruf – Teil 28 Der Ruf – Teil 29 Der Ruf – Teil 30 Der Ruf – Teil 31
Der Ruf – Teil 32 Der Ruf – Teil 33 Der Ruf – Teil 34 Der Ruf – Teil 35
Der Ruf – Teil 36 Der Ruf – Teil 37 Der Ruf – Teil 38
Der Ruf – Teil 39
2
AUFSTELLUNG
Im Garten, gegen 4.40 Uhr
Die letzte Wespe kroch aus seinem Mund und er erhob sich gestärkt. Er hatte, durch Myriaden Facettenaugen blickend, erstaunt gesehen, wie gleichmütig die beiden in der hölzernen Hütte das Unvermeidliche hingenommen hatten. Diese Haltung hatte ihm ebenso imponiert, wie er das Geschrei, die sinn- und verstandlosen Fluchtversuche der anderen verachtet hatte. Die Frau und der Mann in der hölzernen Hütte hatten erkannt, dass es würdelos gewesen wäre, kreischend ein Spektakel zu veranstalten und hatten das Ende erwartet, ohne ihre Selbstachtung zu verlieren. Er hatte es honoriert, indem er nicht mit ihnen gespielt hatte.
Der Hohepriester stand am See in Christophs Körper, genoss die leichte Brise, die das beginnende Tageslicht mit sich gebracht hatte, genoss die neue Kraft, die ihn durchströmte. Er hatte keine Augen für Michaels aufgedunsene Leiche, die aus dem flachen Wasser am Ufer ragte oder für Khans toten Körper im Sand, nur wenige Meter entfernt. Sie waren gestorben, sie waren nun leer.
Der Hohepriester prüfte seine Kraft und war es zufrieden.
Gut.
Die kleinen Diener würden ihm nun keine Nahrung mehr bringen müssen, von nun an war er in der Lage, sich selbst zu nehmen, was er brauchte. Sie nun nicht mehr für ihn sein als Schutz und Waffe. Das machte es einerseits einfacher, andererseits aber auch komplizierter. Er konnte nicht mehr dulden, dass sie einen von jenen töteten, er brauchte alle Kraft, die er aus den letzten Verbliebenen würde saugen können, ohne Verlust. Doch reichte seine Macht noch nicht aus, sie alle gemeinsam anzugreifen. Er würde sie einzeln töten. Und dann würde er diesen Ort verlassen und seine Suche beginnen – nach Spuren dessen, was vor vielen Jahren geschehen war und nach neuen Möglichkeiten, die Meister des großen Krieges zu rufen.
Doch zunächst musste er sich denen in der steinernen Hütte widmen. Einen von ihnen erbeuten, Kraft sammeln, einen weiteren erbeuten.
Er musste listig sein.
Der Körper, der einmal Christoph gehört hatte, ging staksend den Weg zum Garten hinauf.
Im Haus, gegen 5.00 Uhr
Als Philip fertig war, herrschte eine lange Weile Stille. Schließlich sah Maike ihn mit einer Mischung aus Misstrauen und Besorgnis an.
„Das glaubst Du doch selber nicht, oder?“
Philip sah in die Runde, Britt sah sehr nachdenklich aus, in Bastians Augen fand er blanke Angst.
„Doch“, sagte er, indem er auf das Buch tippte, ohne es zu merken, „doch, ich glaube daran. Und, Maike – glaub mir, es fällt mir nicht leicht.“
Er hatte sie geweckt, als Stephan sich in seinem Innerem zurückgezogen hatte. Es war grässlich, seinen Körper mit dem Toten zu teilen, unwirklich und doch auf schrecklich reale Weise falsch. Philip wusste, dass er etwas Widernatürliches zugelassen hatte, etwas, aus dem nach menschlichem Ermessen nichts Gutes erwachsen konnte. Und doch: Es war die einzige Chance, die er sah.
Nur mit Stephan, mit dem Wissen und den Kräften, die der Tote ihm voraus hatte, würden sie dieses Wesen besiegen können. Philip war nicht klar, wie genau Stephan das anstellen wollte, aber er vertraute ihm. Teils, weil er die übermenschliche Rachsucht des Geistes gespürt hatte – und teils, weil es immer noch sein bester Freund war. Es gab doch Bande, die auch der Tod nicht zerschneiden konnte, oder?
Also hatte er die anderen geweckt und begonnen, zu erzählen. Er hatte Stephan nicht erwähnt, er hatte einfach nur erzählt, dass er im Buch die Erklärung für alles gefunden hatte, was passiert war – und die Möglichkeit, es zu beenden. Er hatte von dem Geist aus der Zeit erzählt, den Christoph gerufen hatte, von den Toren und schließlich, dass sie den Geist besiegen mussten, ihn aus Christoph herauspressen. Das war der heikelste Punkt gewesen, denn er hatte selbst keine Ahnung, wie das passieren sollte. Er vertraute darauf, dass Stephan im richtigen Moment wissen würde, was zu tun sei. Er hatte einfach an diesem Punkt seine Erzählung beendet und gewartet, wie die anderen reagieren würden. Maike hatte als erste gesprochen – er hatte ihre Reaktion vorausgesehen.
„Ich habe selber zuerst gedacht, ich wäre verrückt“, fuhr Philip fort. „Und vielleicht bin ich es auch. Wenn Ihr irgendeinen Fehler in dem findet, was ich herausgefunden habe – oder herausgefunden zu haben glaube – dann sagt es mir bitte. Ich weiß selber, was das für eine Geschichte ist. Aber, angesichts dessen, was passiert ist, finde ich sie logisch.“
„Logisch?“ Maike runzelte die Stirn.
„Na ja…“ Er wies mit einer entwaffnenden Geste in die Runde.
Sie schüttelte den Kopf, aber Philip merkte, dass ihr Widerstand erlahmte.
„Und das hast Du alles aus dem Buch?“, fragte Britt.
‚Vorsicht! Sie sollen nicht…‘
Er brachte die Stimme mit einem scharfen Zucken seines Kopfes zum Schweigen und sah, dass Britts Augen sich verengten.
„Ja“, sagte er, und nickte mit einem offenen Lächeln. „Du warst doch dabei, Britt. In dem Schuppen. Weißt Du noch, wie Christoph…“
„Ja, ich weiß das alles noch. Ich…“ Sie schluckte. „Egal. Ich erinnere mich gut. Aber…“ Sie sah ihn nachdenklich an.
„Was ist?“
Britt schüttelte den Kopf. „Nichts. Es ist nichts.“
„Britt, es kann immer noch sein, dass ich völlig durchgedreht bin. Dass ich mir da was zusammenreime. Also wenn Du eine Idee hast…“
Tief, tief in seinem Herzen hoffte er, sie würde etwas finden. Etwas, das ihm bewies, dass er sich doch geirrt hatte, dass er sich all das, Buch, Stimme, Geist, nur eingebildet hatte. Er hoffte es aus voller Seele, alles war besser als das, was er für die Wahrheit hielt. Doch Britt tat ihm den Gefallen nicht. Sie sah ihn mit liebevoller Resignation an und strich über seinen Arm. Die Berührung vertrieb für einen Moment die Kälte in seinem Inneren.
„Nein, leider nicht. Ich habe keinen Fehler in Deiner Geschichte gefunden. Das macht mir ja solche Angst.“
„Du meinst“, sagte Bastian und seine Stimme zitterte dabei, „Du meinst, da draußen ist… irgend was und es kommt, um uns alle zu töten?“
Maike warf ihrem Mann einen Blick voll Mitleid zu.
„Ja, das meine ich“, sagte Philip.
Bastian wandte seinen Blick zur Terrassentür und sah starr hinaus.
Maike setzte sich neben ihm auf den Boden und legte den Arm um ihn.
„Und wie genau willst Du mit diesem… diesem Ding in Christoph fertig werden?“
„Wir müssen es aus ihm herausbekommen.“
„Wie das?“, fragte Britt.
Philip wurde unsicher. „Ich… in dem Buch…“
‚Ihr müsst ihn einfangen. Ihn bewusstlos schlagen. Und den Geist aus ihm heraus zwingen!‘
„Wir müssen ihn irgendwie überwältigen. Und dann den Geist aus ihm herausholen“, sagte Philip, doch gleichzeitig wusste er, dass es nicht stimmte. Stephan log. Er hatte etwas anderes vor, etwas, von dem er nicht wollte, dass die anderen es erfuhren. Warum?
„Wie – heraus zwingen?“, wollte Maike wissen.
‚Mit Beschwörungsformeln. Formeln aus dem Buch!‘
‚Das stimmt nicht’, dachte Philip. ‚Du lügst, warum…‘
‚Später, Philip. Vertrau mir. Jetzt ist es nur wichtig, dass sie Dir glauben.‘
„Philip?“, sagte Britt. „Alles in Ordnung?“
„Was? Oh, ja, ich habe nur kurz nachgedacht. Es ist kompliziert. Es gibt Formeln in dem Buch. Formeln, die ihn heraus zwingen.“
Britt wirkte überhaupt nicht glücklich. „Haben wir mit Formeln aus dem Buch nicht schon genug angerichtet.“
Philip lachte bitter, und es war nicht gespielt. „Oh, ja das haben wir sicher. Aber weil wir mit dem Buch Scheiße gebaut haben, können wir sie auch nur durch das Buch wieder aus der Welt schaffen. Glaube ich zumindest.“
‚Gut. Sehr gut.‘
„Aber selbst wenn es so ist“, warf Maike ein und grinste bitter, „und im Moment ist das unsere einzige Hoffnung, verrückt oder nicht, also, selbst wenn es so ist, was machen wir, wenn das Wesen wieder aus Christoph raus ist?“
„Er wird verschwinden“, improvisierte Philip.
„Wie kommst Du darauf?“
„Er braucht Christoph. Christoph hat ihn mit der Formel gerufen und ihn in sich gelassen. Wenn er wieder aus ihm raus ist, ist er machtlos. Es hängt alles an dieser Beschwörung, die ihn in Christoph hält.“
Wieder kehrte Stille ein. Die Frauen beobachteten Philip scharf und überlegten, während Bastian zitternd aus dem Fenster starrte.
„Gut“, sagte Maike schließlich. „Gut, ich denke immer noch, es klingt unglaublich verrückt, aber es ist unsere einzige verbliebene Hoffnung, und Du hast recht – sie hat etwas Logisches. Was meinst Du, Britt?“
Britt nickt, wenn auch mit weniger Überzeugung. „Ja. Wir sollten es versuchen. Was bleibt uns sonst?“
„Was schlägst Du als nächstes vor?“, fragte Maike und sah Philip an.
„Wir müssen warten“, sagte der. „Christoph – ich meine dieses Ding in ihm – muss den nächsten Schritt machen. Die Insekten kommen hier nicht rein. So kommt er nicht an uns ran. Er wird selbst kommen müssen. Und dann müssen wir ihn besiegen. Schnell, damit die Insekten ihm nicht helfen können. Wir sind ein bisschen im Vorteil, er kann nicht durch die Terrassentür kommen, die haben wir verriegelt. Er muss vorne rein, da hören wir ihn.“
„Wenn er nicht einfach durch das Glas bricht“, meinte Britt.
Philip schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass er Christophs Körper beschädigen wird, ohne Not. Er hat nur den einen.“
Also warteten sie. Maike rollte sich wieder in ihren Schlafsack, während Bastian weiter angstvoll aus dem Fenster starrte. Britt und Philip lagen auf dem Sofa, streichelten und küssten sich. Schließlich zog sie ihn von der Couch und dahinter. Philip erschrak. Er wollte das nicht, nicht mit Stephan.
„Britt, ich weiß nicht ob ich will, dass…“
„Oh.“ Sie lächelte traurig, „Ich weiß aber sehr genau, wie sehr ich will. Trotzdem – nicht so lange die da zugucken.“ Sie wies mit dem Kopf in Richtung Terrassentür, auf der von außen wieder viele Insekten herumkrochen.
Er streichelte zärtlich ihr Haar. „Wir haben noch viel Zeit.“
„Ja?“ Sie sah ihn an. „Was verheimlichst Du uns, Philip?“, sagte sie sehr leise.
Er dachte nicht einen Moment daran, zu leugnen, es hätte auch keinen Sinn gehabt.
„Es… gibt noch etwas, das ich Euch nicht sagen kann. Etwas, dass uns helfen kann, dieses… dieses Wesen zu besiegen.“
„Es wird nicht so einfach sein, nicht wahr? Fangen, fesseln, Formel sprechen, Schluss.“
„Nein. Nicht ganz so einfach. Aber es wird klappen.“
„Kannst Du es mir nicht sagen?“
„Noch nicht. Du musst mir bitte glauben, dass ich weiß, was ich tue.“
Sie zog eine Augenbraue hoch. „Weißt Du es selbst?“
‚Nein‘, dachte Philip, ‚gar nichts weiß ich.‘ Laut sagte er: „Ich denke schon. Ich hoffe es.“
„Okay“, sagte sie, „ich hoffe, Du weißt es wirklich.“ Sie seufzte und zog ihn an sich. „Du fühlst Dich kalt an, Lieber. Komm, ich wärme Dich.“
Philip ließ sich in Britts Umarmung sinken und lauschte angstvoll auf die Stimme in seinem Inneren. Doch Stephan schien verschwunden. Zumindest hatte er noch den Anstand, ihn in diesem Moment in Ruhe zu lassen.
FORTSETZUNG FOLGT
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