Hallo, schön, dass Ihr wieder zu unseren Geschichtenlagerfeuern gekommen seid. Heute entzünden Sarah und ich sie zum vorerst letzten Mal. Begonnen haben wir damit vor genau elf Wochen, am 15. März. Sarah war am Donnerstag vorher angekommen, um mit uns Claudias Geburtstag zu feiern, und wir hatten große Pläne für die Woche danach – endlich einmal wollten wir Sarah die Bergischen Sehenswürdigkeiten zeigen die wir seit unserer Kindheit kennen, dazu hatten wir ihr einen Besuch im russischen Restaurant geschenkt… Und von Tag zu Tag schrumpften unsere Pläne, bis wir schließlich, ein paar Minuten, nachdem Sarah ihre erste Quarantänegeschichte geposted hatte, erfuhren, dass die Grenzschließungen bevorstehen. Ich brachte sie hastig zum Bahnhof, und auch wenn keiner unserer Abschiede je schön ist, dann war dies doch ein besonders unschöner.
Da wir auch in Coronazeiten viel zusammenarbeiten haben wir uns zumindest im Skype oft gesehen, aber die Geschichten waren ein besonderes Band. Danke dafür. liebe Sarah. 🙂
In Österreich sind die Kontaktsperren schon seit einiger Zeit gelockert, hier in Deutschland treten viele Lockerungen an diesem Wochenende in Kraft – wir können wohl sagen, dass unsere Länder bisher (!) ganz gut durch die Krise gekommen sind. „Ganz gut“ immer mit Vorbehalt: 8500 Tote in Deutschland (nach heutigem Stand laut RKI) sind 8500 zuviel. Und ich kenne persönlich Menschen, die an COVID-19 erkrankt waren – keine schweren Verläufe, würde man sagen, niemand davon war im Krankenhaus. Aber was sie von diesen „leichten“ Verläufen erzählt haben war nicht besonders witzig und die wochenlangen Strapazen haben sichtbare Spuren hinterlassen. Wir sollten diese Krankheit weiterhin ernst nehmen, und alles tun, dass auch die zweite, dritte und vierte Welle vergleichsweise milde verlaufen.
Aber die erste Welle haben wir wohl hinter uns. Ich kann wieder ins Schwimmbad, wenn auch unter Auflagen. Recherchen werden wieder möglich, ich werde wohl in absehbarer Zeit wieder nach Wien reisen, wenn auch unter Auflagen. Das Leben normalisiert sich, wenn auch…
Mit den Quarantänegeschichten wollten wir – wie ich hier jeden Sonntag wieder erzählt habe – einer der Aufgaben unserer uralten Zunft der Geschichtenerzähler*innen gerecht werden: Den Clan auch in schweren Zeiten bei gutem Mut zu halten. Ich hoffe, wir konnten dem gerecht werden. Euch, die Ihr immer wieder an unsere Feuer gekommen seid, danke ich von ganzem Herzen. Wir erzählen, weil wir nicht anders können und weil es unser Lebensinhalt ist. Aber ohne Euch, wäre es einsam und sinnlos.
Morgen bekommt Ihr noch einen Gesamtüberblick über alle Geschichten, heute endet die Erzählung vom „Ruf“. Zum Abschluss geht es noch einmal nach… Anderswo:
Der Ruf – Teil 1, Hintergrund, Rechte
Der Ruf – Teil 2 Der Ruf – Teil 3 Der Ruf – Teil 4 Der Ruf – Teil 5
Der Ruf – Teil 6 Der Ruf – Teil 7 Der Ruf – Teil 8 Der Ruf – Teil 9
Der Ruf – Teil 10 (mit Gewinnspiel)
Der Ruf – Teil 11 Der Ruf – Teil 12 Der Ruf – Teil 13 Der Ruf – Teil 14
Der Ruf – Teil 15 Der Ruf – Teil 16 Der Ruf – Teil 17 Der Ruf – Teil 18
Der Ruf – Teil 19 Der Ruf – Teil 20 Der Ruf – Teil 21 Der Ruf – Teil 22
Der Ruf – Teil 23 Der Ruf – Teil 24 Der Ruf – Teil 25 Der Ruf – Teil 26
Der Ruf -Teil 27 Triggerwarnung: Suizid
Der Ruf – Teil 28 Der Ruf – Teil 29 Der Ruf – Teil 30 Der Ruf – Teil 31
Der Ruf – Teil 32 Der Ruf – Teil 33 Der Ruf – Teil 34 Der Ruf – Teil 35
Der Ruf – Teil 36 Der Ruf – Teil 37 Der Ruf – Teil 38 Der Ruf – Teil 39
Der Ruf – Teil 40 Der Ruf – Teil 41 Der Ruf, Teil 42 Der Ruf – Teil 43
Der Ruf – Teil 44 Der Ruf – Teil 45 Der Ruf – Teil 46 Der Ruf – Teil 47
Der Ruf – Teil 48 Der Ruf – Teil 49 Der Ruf – Teil 50 Der Ruf – Teil 51
Der Ruf – Teil 52
Anderswo
Stephan erwachte aus unruhigen Träumen. Er erinnerte sich vage an einen Keller und einen Schrei.
„Fahr zur Hölle!“
Stephan rieb sich die Augen. Etwas stimmte nicht, das war nicht das Ufer des Sees, an dem er eingeschlafen war. Hier war eine Wiese, saftiges Grün am Rande eines dunklen Waldes. Kat lag neben ihm, sie schlief friedlich. Er küsste ihre Wange und sie lächelte im Schlaf. Er betrachtete sie eine Weile, dann stand er auf, um sich umzusehen. Er trug immer noch die Klamotten, die er getragen hatte, als er eingeschlafen war, die Jeans und das graue T-Shirt.
Aber war er überhaupt eingeschlafen? Und war er nicht nackt gewesen? Seine Erinnerungen kamen langsam zurück. Er war in den Wald gegangen. Er hatte etwas gehört, aber dann?
Ein Nebel, der etwas Großes verbarg. Und dieser Traum. Im Keller.
Er schüttelte die Gedanken ab und sah über die Wiese. Er kannte diesen Ort, aber er wusste nicht, woher. Da war kein See und das war ein anderer Wald. Das war mit Sicherheit nicht einmal das Bergische Land. Was war geschehen?
Er sah unschlüssig auf Kat hinab, aber sie schlief immer noch, also beschloss er, sich ein wenig umzusehen.
„Ich bin gleich wieder da“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Stephan machte sich auf den Weg, dem anderen Ende der Wiese zu. Er befand sich auf einem Hügel und erreichte bald dessen Kamm. Auf der anderen Seite setzte sich die Wiese fort, sanft den Hügel hinab und zum Ufer eines Flusses. In einiger Entfernung sah er ein großes, hölzernes Schiff.
Das Schiff. Natürlich. Aber war das nicht ein Traum gewesen?
Unwillkürlich ließ er sich in die Hocke nieder und befühlte das Gras, das noch feucht war vom Morgentau. Ebenso feucht, wie sein Haar und sein T-Shirt, nicht klamm, angenehm frisch.
Ein Traum?
Zwei Menschen kamen unten, am Flussufer, um den Saum des Waldes, ein Mann und eine Frau. Sie gingen Hand in Hand, Fetzen von Worten und Gelächter wehten zu Stephan hinauf. Das rote Haar der Frau leuchtete in der Morgensonne. Der Mann trug etwas über dem Rücken, das Stephan als ein japanisches Schwert erkannte. Stephan besah sich die Szene und mit einem Mal…
Er erinnerte sich an den Traum.
Er erinnerte sich an den See.
Er erinnerte sich an den Wald und den Garten und den Keller.
War dies ein Traum? Oder war alles andere ein Traum gewesen?
„Verzeih mir, Philip“, flüsterte er. „Verzeiht mir alle. Es tut mir so leid.“
Stephan schaute zum Schiff. Dort würde er Antworten bekommen, das wusste er. Ein Ruf. Stephan sah zu dem Paar hinunter. Die Frau und der Mann sahen in seine Richtung, die Augen mit den Händen beschattend. Dann deutete die Frau auf Stephan und sprach mit ihrem Begleiter. Er rief etwas, das Stephan nicht verstand, winkte. Auch die Frau winkte und machte eine einladende Geste. Stephan verstand. Alles. Er winkte zurück.
„Wir kommen!“, rief er. „Ich muss nur Kat holen! Wartet auf mich!“
Er wusste nicht, ob sie ihn verstanden hatten, aber die Frau nickte und winkte noch einmal.
Stephan lief zurück über die Wiese, zu Kat. Sie war gerade aufgewacht, streckte sich gähnend.
„Guten Morgen“, sagte sie.
Sie küssten sich lange.
„Hast Du gut geschlafen?“, wollte sie wissen.
„Nein“, sagte er. „Nein, aber das ist jetzt egal. Was ist mit Dir? Hast Du gut geschlafen?“
Sie sah für einen Moment ins Leere, schaudernd. „Nein“, sagte sie dann lächelnd. „Nein. Aber Du hast recht. Es ist egal. Es ist vorbei.“
„Wir müssen runter zum Schiff“, sagte Stephan.
Sie sah sich um und nickte. „Ja, natürlich, das müssen wir. Lass uns gehen.“
Sie liefen über die Wiese und den Hügel hinab zum Fluss.
ENDE
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